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Steven Millhauser: "Stimmen in der Nacht"
Ein Abbild der US-Gesellschaft

Der amerikanische Romancier und Erzähler Steven Millhauser ist einer der größten Geschichtenerzähler unserer Zeit. In seinem neuesten Storyband "Stimmen in der Nacht" ergründet er das geheime Leben und die dunklen Sehnsüchte der Bewohner einer Kleinstadt und zeichnet damit ein Abbild der US-Gesellschaft.

Von Samuel Hamen | 30.03.2018
    Buchcover: Steven Millhauser: "Stimmen der Nacht"
    Steven Millhauser gibt sich der Dynamik zwischen Fassade und Bruch hin (Buchcover: Septime Verlag, Foto: Deutschlandradio / Jasper Barenberg)
    Die amerikanische Kleinstadt gilt als Ort der Normalität, als das juste milieu, in dem sich der kleine Neid und die große Üblichkeit eingerichtet haben. Zugleich ist es oft die Kleinstadt, in der etwas aus dem Lot gerät. In seinem Erzählband "Stimmen in der Nacht" gibt sich der amerikanische Autor Steven Millhauser dieser Dynamik zwischen Fassade und Bruch hin. Den Figuren der sechzehn Erzählungen, die alle mutmaßlich in demselben namenlosen Städtchen leben, widerfährt eine Unwägbarkeit. Und allzu schnell setzt eine Kippbewegung ein: Ein waghalsiger Gedanke, eine geisterhafte Sichtung, ein unachtsamer Schlaf – nicht viel ist nötig, damit durch neue Risse und alte Schlünde das Schräge, Surreale und Verdrängte in die Vorgärten und Schlafzimmer einzieht.
    In "Ein Bericht über unsere jüngsten Probleme" sucht beispielsweise eine Suizidwelle die Stadt heim. Zuerst bringt sich ein Pärchen mittleren Alters um, es folgen Grundschüler, ältere Ehepartner und Teenager. Beschrieben wird die Eskalation aus der Perspektive eines nicht näher präzisierten Wirs. Gesprochen wird im Beamten-Ton. Alles klingt so, als lege hier jemand eine Akte über Vorfälle an, von denen er oder sie unglücklicherweise selbst Teil geworden ist.
    "Nachts wurden wir plötzlich wach, unsere Hände verkrampft in die Laken gedrückt."
    Die falsche Idylle ist dahin, ja, ihre Funktion bestand vordergründig darin, zerstört zu werden:
    "Tatsächlich, es fällt oft schwer, sich an eine unschuldige Zeit zu erinnern, als wir vergnügt Geburtstagsfeste für unsere Kinder planten und uns an Familienpicknicks auf schattigen Rotholztischen neben dem Fluss erfreuten."
    Steven Millhauser bedarf keiner Effekthascherei
    Am Ende der Erzählung verlangt das Komitee, das für den Bericht verantwortlich zeichnet, Maßnahmen à la Spiele und Brot, um die Suizidwelle einzudämmen. Hinrichtungen, Kindsopferungen, Häutungen – das Gemeine und Niederträchtige soll kanalisiert werden, damit der kollektive Wahn ein Ende nimmt:
    "Übersättigt von Zufriedenheit, beschwert von Fröhlichkeit, verspüren unsere Bewohner, hin und wieder, eine jähe Sehnsucht nach dem Ungesehenen, dem Verbotenen."
    Diese Erschütterung ist vielen von Steven Millhausers Erzählungen als Grunddynamik eingeschrieben. Oftmals ist sie subtiler in die Alltage eingebettet als im oben genannten "Bericht über unsere jüngsten Probleme". In "Die Ehefrau und der Dieb" glaubt die Protagonistin, nachts Schritte im Wohnzimmer zu hören. Sie imaginiert sich einen Dieb herbei und stellt sich vor, wie er herumschleicht und ihr Haus leerräumt. Doch der Ausnahmezustand, den sie herbeisehnt, wird ihr verwehrt. Am Ende bestiehlt sie sich selbst, um eine Maßnahme gegen ihre umfassende Lebenslangeweile zu finden.
    Steven Millhauser bedarf keiner Effekthascherei, um diese Unstimmigkeiten zu beschreiben. Der 1943 geborene Autor, der 1997 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, gibt sich weder stilistischen Prahlereien noch erzähltechnischen Experimenten hin. Seine Sprache ist ruhig, ohne unachtsam zu sein. Sein Stil arbeitet pointiert die Schwächen, Wünsche und Abgründe der Figuren heraus, ohne letztere der Peinlichkeit preiszugeben. Ob Wir-, Er- oder Ich-Erzählung: Millhauser beherrscht in herabgedimmter Meisterschaft alle Perspektiven. Ob Denkstrudel oder Traumwanderung, ob Einfall des Mythischen oder transhistorische Erzählung, die zwischen Altem Testament und Gegenwart changiert: Millhauser bedient mit flexibler Routine alle Register.
    Erzählte Leben erschöpfen sich nicht in einer Allegorie
    Eine der stärksten Erzählungen trägt den Titel "Söhne und Mütter". Ihre Wucht zieht sie gerade aus ihrer leisen Erzählweise, mit der sie einen Kippmoment einfängt. Wir stecken in der Perspektive eines fahrigen, feigen Sohns, der nach Jahren seine verwitwete Mutter in der Kleinstadt besucht. Nichts funktioniert, die Kommunikation liegt brach, die familiäre Nähe ist nur noch ein Zitat auf Kinderfotos. Das Stottern und Absterben einer Mutter-Sohn-Beziehung beschreibt Millhauser in einer fast schon ungeheuerlichen Reibungslosigkeit:
    "Sie hielt inne. 'Oh, jetzt erinnere ich mich'. Ich wartete. 'Du erinnerst dich?'‚ 'Natürlich erinnere ich mich', sie sah mich neckisch an. 'Ich bin mir nicht sicher –' 'Das Zimmer.' 'Ich muss das Zimmer fertigmachen. Das ist es, was ich tun muss. Das Zimmer. 'Erinnerst du dich?' 'Oh, das Zimmer, oh nein, nein, nein, nicht heute, ich bin nur auf der Durchreise. Lass uns einfach – können wir einfach hier sitzen und reden?'"
    Aber das einfache Sitzen und Reden, Schlafen und Denken ist nicht mehr selbstverständlich, weder für den Sohn in dieser Erzählung noch für die Figuren in einer der fünfzehn anderen Stories. Und längst ist man auf das niederschmetternde Ende, wie Millhauser es Mutter und Sohn zumutet, eingestellt. Das Abstruse wird nämlich organisch, der Drall ins Abwegige ist immer vorgezeichnet. Hierin liegt auch der Effekt des Unheimlichen, der diesem Erzählband innewohnt: Vieles scheint plötzlich möglich, aber nicht so, wie wir es als Leserschaft zu erhoffen beziehungsweise zu fürchten wagen.
    Für die Bücher eines anderen amerikanischen Schriftstellers, Junot Diaz, wirbt dessen deutscher Verlag mit einem Aufkleber, auf dem steht: "Der literarische Superstar des Amerikas von Barack Obama". Für welches Amerika aber stehen die Erzählungen aus "Stimmen in der Nacht"? Lässt sich ihr Autor Steven Millhauser auf eine politische Zeitgenossenschaft reduzieren? Ja und Nein. Ja, weil Millhausers Kleinstadt mit ihrem zittrigen Alltag, mit ihren Suiziden und kollektiven Phantasmen ein Abbild der US-Gesellschaft ist, die feststeckt in ihren Gräben zwischen Waffen-, Identitäts-, Medien- und Drogenkrisen. Nein, weil sich die erzählten Leben nicht in dieser Allegorie erschöpfen. Sie verweisen nicht nur auf die Stimmung in einem zutiefst verunsicherten Land, sondern stehen auch und insbesondere für sich selbst, für das Gefühl einer existenziellen Unbehaustheit, die jeden überall erfassen kann. So wirken Steven Millhausers Figuren wie Schaufensterpuppen, die durch kaum kontrollierte Leben schlafwandeln. Im Fiebertraum, der nichts anderes ist als die andere Wirklichkeit, irren sie durch eine Kleinstadt, die, wer weiß, auch gleich vor der eigenen Haustür liegen könnte.
    Steven Millhauser: "Stimmen in der Nacht".
    Erzählungen, aus dem Englischen von Sabrina Gmeiner, 398 Seiten, Septime Verlag, Wien, gebunden, 24 Euro