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Stillstand in der Krise

Karin Henkel arbeitet gern mit zugespitzten Charakteren in etwas künstlichen Welten, doch häufig kommt gerade deshalb wahrhaftiges Theater über die Rampe. An den Münchner Kammerspielen hat die Regisseurin nun Anton Tschechows "Onkel Wanja" inszeniert.

Von Sven Ricklefs | 05.04.2013
    Drei Fragen braucht der Mensch, so scheint es, drei Fragen, und dann braucht er eigentlich gar nichts mehr: zumal wenn die Fragen heißen wie: Why did you get up this morning? Oder: What are you afraid of? Oder: Why even pretend? Stellt man sich diesen Fragen, hat man eigentlich schon verloren, auch wenn sie aus den Arbeiten des französischen Fluxuskünstlers und Zenbuddhisten Robert Filliou stammen und den schönen Titel tragen: Ample food for stupid thought. In den Münchner Kammerspielen laufen diese Fragen als ewige Schriftschleife im depressiv langsamen Tempo oben über der Szene, drei Fragen pro Akt. Als Metaebene, als Kommentar. Als Stimmungskanon von Tschechows Figuren, der ja letztlich in seiner depressiven und zugleich komischen Allgemeingültigkeit der Stimmungskanon der Menschheit schlechthin ist. Und darunter dann die Schauspieler: im kleinen nach hinten engen Schaufenster, das Bühnenbildnerin Muriel Gerstner in jene Mauer eingebaut hat, mit der sie das Portal ganz vorn am Bühnenrand einfach verschließt.

    Wanja: "Mir scheint, so langweilig war es bei uns noch nie: Mal sitzt man … mal steht man …"

    Meist stehen sie da rum in diesem Schaufenster wie sie auch in ihrem Leben rumstehen, wie bestellt - von wem weiß ohnehin niemand - wie bestellt und nicht abgeholt, wer sollte sie auch schon abholen, wer sollte sie nehmen, sie lieben. Onkel Wanja ist Anton Tschechows scharfe Komödie über die Vergeblichkeit und Banalität in Untätigkeit vergeudeter Leben und das: im Bild einer russischen Gutsgesellschaft um einen alten gichtgeplagten Kunstprofessor und seine junge Frau. Die Münchner Inszenierung von Karin Henkel und Johan Simons stellt nun dieses Figurenkonstrukt ins Schaufenster, stellt die Figuren aus, ohne sie aber bloßzustellen, denn während sie da oben rumsitzen oder rumstehen und sich und den anderen beim Welken zuschauen, bei der Langeweile, beim Leiden, spielen sich zugleich in diesem Rumstehen ganze Leidensgeschichten und Schicksale in nur Andeutungen, in Gesten ab.

    Sonja: "Früher haben wir gearbeitet Onkel Wanja, wir beide, jede Minute. Jetzt arbeite nur noch ich und du schläfst zu den unmöglichsten Zeiten. Und fängst schon morgens an zu saufen, das kann doch nicht gesund sein. "

    Wenn diese Sonja, gespielt von Anna Drexler sich am schrecklichen Kleidchen zupft oder die Brille stupst, wenn sich Benny Claessens als Wanja in seiner ganzen erheblichen Körperlichkeit an den Schaukastenrand plumpsen lässt oder wenn ihm Hans Kremer als seine Mutter mit strengem Dutt und im langen strengen Schwarzen am Pullover nestelt, dann liegen in diesen kleinen Gesten ganze Geschichten offen: ebenso schreckliche wie herzanrührende.

    Man wird schwerlich von außen sagen können, wo die Regisseurin Karin Henkel mit ihrer Arbeit krankheitsbedingt aufgehört hat und was nun der Intendant der Münchner Kammerspiele Johan Simons in den vergangenen 2einhalb Wochen mit seiner Arbeit noch einbrachte. Unleugbar ist: Beide haben überaus liebevoll mit den Schauspielern an den Figuren gearbeitet. Doch ebenso unleugbar ist: Das Grundkonzept und die szenische Setzung durch den genialen Bühnenraum von Muriel Gerstner ist aus der Arbeit von Karin Henkel entstanden und so ist diese Inszenierung sicherlich ihr Kind, dass Johan Simons aus der Taufe gehoben hat und dem das großartige Ensemble nun in den Münchner Kammerspielen einen riesigen Erfolg erspielte.