Freitag, 19. April 2024

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Stockhausens "Gesang der Jünglinge im Feuerofen"
Das Alte Testament der Neuen Musik

13 Minuten, die die Musikgeschichte veränderten: Als Karlheinz Stockhausens elektronisches Werk "Gesang der Jünglinge im Feuerofen" 1956 uraufgeführt wurde, hielten sich frenetischer Beifall und Buh-Rufe die Waage. Heute gilt das Werk als Meilenstein. Beim Festival "Infektion!" der Berliner Staatsoper wurde "Gesang der Jünglinge" jetzt wieder aufgeführt.

Von Eva Blaskewitz | 14.07.2016
    Der Komponist Karlheinz Stockhausen 2005 in Kürten.
    Der Komponist Karlheinz Stockhausen 2005. (Imago)
    Klänge wie Organismen. Sie wandern durch den Raum, sie schwellen an, verschmelzen und verglimmen, Klänge wie unter Wasser, schwebende Klänge, pochende Klänge. Und: Eine helle Knabenstimme, vertraute Töne, die aus diesen manchmal unheimlichen Klangmassen auftauchen.
    "Preiset den Herrn"
    "Gesang der Jünglinge" ist das erste Werk, das die menschliche Stimme mit elektronischen Klängen verbindet – und wie es Roman Reeger, Dramaturg der Berliner Staatsoper, formuliert: "'Gesang der Jünglinge' ist eigentlich fast so was – das passt auch zum Inhalt – wie das Alte Testament der Neuen Musik. Was Stockhausen wirklich faszinierend schafft, ist, mit ganz wenigen, sehr definierten Klängen ein ganzes Universum zu schaffen, das alles zwischen dem Göttlichen, wie es da heißt, bis zum ganz Handfesten, Realen, Irdischen erst mal so aufnimmt und möglich macht."
    Gesungene Laute und synthetische Klänge verschmelzen im "Gesang der Jünglinge" zu einem Kontinuum, dessen Spektrum von klar verständlichen Worten bis zu Geräuschen reicht. Der Vokalpart ist bis in die einzelnen Laute hinein zerlegt und nach seriellen Gesichtspunkten neu zusammengesetzt, vermischt mit den elektronischen Klängen. Die Grenzen zwischen Musik und Sprache verschwimmen – bei der Uraufführung vor 60 Jahren, im Mai 1956, äußerst skandalträchtig:
    "In mehrerlei Hinsicht, auf der einen Seite natürlich im Umgang mit der Musik selbst, diese Verbindung von einer Knabenstimme, das Unschuldigste, was wir so kennen in unserer Hörrezeption, mit dieser sehr artifiziellen, künstlichen, auch manchmal etwas sperrig wirkenden elektronischen Musik, also die Auflösung von Grenzen spielen eine Rolle, auf der anderen Seite auch das Sujet, was durchaus provokant war, also zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, des Dritten Reiches ein Stück zu machen wie 'Gesang der Jünglinge im Feuerofen' und die Geschichte aus dem Buch Daniel erzählen zu lassen, wo eben drei Juden von Nebukadnezar in einen Feuerofen geschickt werden, da ist eben sehr viel Provokationspotenzial enthalten."
    Und noch etwas provoziert, bis heute: das Fehlen des Interpreten auf der Bühne. Die Musik kommt aus vier Lautsprechern, ausgeklügelt im Raum verteilt – auch das seinerzeit revolutionär.
    "Das Verschwinden des Interpreten ist natürlich auch ein ganz wichtiges Thema, die direkte Ansprache kommt über die Musik selbst, nicht über den Interpreten. Es ist sozusagen die Überwindung des Interpreten, die er schafft, und sozusagen das Klingen oder das Wirken des Werkes, der Musik selber. Und trotzdem spürt man die Anwesenheit des Interpreten, man hört diese Knabenstimme, die unglaublich klar daherkommt, sehr textverständlich, die uns direkt berührt, und diese Knabenstimme eben im Dialog mit künstlichen, sphärischen ‑ manchmal sphärischen, manchmal sehr pulsierenden Klängen. Und das hat auch, ich denke, neue Perspektiven durchaus eröffnet."
    Auf der abgedunkelten Werkstatt-Bühne der Berliner Staatsoper, nur ein Scheinwerfer erleuchtet den Flügel, der noch in der Mitte steht, und zaubert filigrane Muster auf die Wand, in diesem minimalistischen Raum entfaltet die Musik einen eigenartigen Sog. Und auch wenn heute ganz andere technische Mittel zur Verfügung stehen, hat dieses Werk aus den Anfangsjahren der elektronischen Komposition nichts von seiner suggestiven Kraft verloren.