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Strandbebauung und Klimawandel
Babyschildkröten auf Abwegen

Meeresschildkröten leiden zunehmend unter dem Einfluss des Menschen auf den Planeten. Das fängt nach dem Schlüpfen an, wenn Licht und Bebauung die Orientierung der Reptilien erschweren. Und zieht sich bis zu ihrer Geschlechtsreife - denn die Männchen werden knapp.

Von Guido Meyer | 15.08.2019
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Unechte Karettschildkröten in Florida finden nach dem Schlüpfen oft den Weg zum Meer nicht - denn der Mond ist nicht mehr die einzige Lichtquelle am Strand (Sarah Milton, Florida Atlantic University)
Es geschieht alle Jahre wieder, zwischen Mai und September, in Florida. Dort, wo der Atlantik auf das Festland trifft, verlassen haufenweise Unechte Karettschildkröten den Ozean. Unhörbar kriechen sie ein paar Meter über den Sandstrand, graben ein Loch, legen darin rund einhundert Eier ab und verabschieden sich dann wieder ins Meer.
Zwei Monate später, wieder nachts: Billy schlüpft, gemeinsam mit seinen einhundert Geschwistern. Doch Billy kommt nicht weit. Sein Ziel, den Atlantischen Ozean, erreicht er nicht.
"Hier, diese Unechte Karettschildkröte - das ist Billy. Den Namen habe ich ihr gegeben. Sie ist nicht größer als mein Daumen. Billy hatte Schwierigkeiten, zum Ozean zu krabbeln. Wir behalten ihn jetzt hier, bis er zu Kräften gekommen ist. Später werden wir ihn mit einem Boot im Ozean aussetzen."
Dutzende Schildkröten werden in Florida aufgepäppelt
Die Biologiestudentin Heather Seamen hat Billy am Strand gefunden. Und dann hat sie ihn in ein großes, rundes Becken mit Meerwasser gesetzt. Hier ist Billy nicht alleine. Dutzende von Unechten Karettschildkröten und Grünen Meeresschildkröten werden hier aufgepäppelt.
Die Nachtsichts-Aufnahme einer schlüpfenden Grünen Meeresschildkröte
Schildkröten schlüpfen bei Nacht und suchen dann den flachen, hellen Horizont (Sarah Milton, Florida Atlantic University)
"Wir sind im Gumbo Limbo Nature Center in Florida. Hier, an der Ostküste der Vereinigten Staaten, finden wir im Sommer die meisten Meeresschildkrötennester am gesamten Nordatlantik."
Sarah Milton von der Biologieabteilung der Florida Atlantic University arbeitet mit dem Gumbo Limbo Center zusammen. Die Wissenschaftler beobachten seit Jahren, dass es den Tieren zunehmend schwerer fällt, aus dem Nest heraus über den Sand in den Ozean zu krabbeln.
"Normalerweise finden die Tiere das Wasser, indem sie sich von der dunklen Strandseite abwenden. Sie orientieren sich in Richtung flacher Horizont und Licht. Das kann der Mond sein oder Sterne, die sich auf der Ozeanoberfläche spiegeln."
Die Schlüpflinge verlaufen sich
Allerdings haben sich die Strände in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Viele sind mit Hotels zugebaut. Deren Licht lenkt die Schlüpflinge ab. Deswegen landen sie oft auf Parkplätzen, auf Straßen oder in Swimming Pools.
"Also haben wir uns gefragt: Wenn die Schlüpflinge solange auf dem Strand herumgeirrt sind und endlich den Ozean erreichen - haben sie dann überhaupt noch genug Kraft zu schwimmen?"
Die Biologin Sarah Milton und ihre Kollegen beobachten, dass Schildkröten immer seltener das Meer finden
Die Meeresbiologin Sarah Milton (Guido Meyer, Deutschlandradio)
Fitnesstraining für die Kleinen
Die Wissenschaftler setzen die Schildkrötenbabies aber nicht direkt nach dem Auffinden im Meer aus. Sarah Milton setzt die kleinen Tiere zuvor auf ein genauso kleines Laufband, an dessen Ende eine Lampe scheint, so wie der Mond - Fitnesstraining für Meeresschildkröten: linke Flosse - rechte Flosse - linke Flosse – rechte Flosse...solange, bis die Schlüpflinge ein Ausdauertraining von einem halben Kilometer hinter sich hatten.
"Die Tiere mussten sehr oft anhalten und sich ausruhen. Sie sind gekrabbelt, haben angehalten, sind weiter gekrabbelt und so weiter. Aber je länger sie sich auf dem Strand aufhalten, desto größer die Gefahr, dass sie gefressen werden. Und wenn die Sonne aufgeht, heizen sie sich auf, dehydrieren und sterben."
Männchen werden knapp
Ihr mangelndes Durchhaltevermögen führen die Biologen auf die gestiegenen Luft, Erd- und Ozeantemperaturen zurück. Auch Meeresschildkröten bekämen die globale Erwärmung zu spüren, erklärt Heather Seamen.
"Der Klimawandel heizt den Sand am Strand auf. Ein wärmeres Nest hat Auswirkungen auf die Schlüpflinge: Sie sind kleiner, und sie sind schwächer. Außerdem bestimmt die Temperatur das Geschlecht der Tiere. Je heißer es ist, desto mehr Weibchen schlüpfen."
Genau das ist schon eingetreten: Seit einiger Zeit schlüpfen fast nur noch Weibchen. Das wird spätestens in rund zwanzig Jahren zum Problem werden, wenn die Tiere geschlechtsreif sind, auf Partnersuche gehen - aber nicht fündig werden.