Donnerstag, 25. April 2024

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Straßenmagazin "Hinz&Kuntz" unter neuer Leitung
"Was weiterentwickelt werden muss, ist die Digitalisierung"

Mit Annette Bruhns hat das Hamburger Straßenmagazin "Hinz&Kunzt" eine langjährige "Spiegel"-Journalistin als Chefredakteurin bekommen. "Ich bin angetreten, um Dinge weiterzuentwickeln", sagte Bruhns im Dlf. Eine Herausforderung sei, das Magazin zu einem Digitalprodukt zu machen - aber auch die Bezahlung zu digitalisieren.

Annette Bruhns im Gespräch mit Christoph Sterz | 06.01.2021
Der ehemalige Obdachlose Klaus verkauft am 10.10.2013 vor einem Kaufhaus in Hamburg das Straßenmagazin "Hinz&Kunzt".
Das Hamburger Straßenmagazin "Hinz&Kunzt" hat eine neue Chefredakteurin (dpa / picture alliance / Maja Hitij)
Das Hamburger Magazin "Hinz&Kunzt" erscheint seit Anfang der 1990er Jahre und ist nach eigenen Angaben mit einer Auflage von durchschnittlich 60.000 Heften pro Monat die meistverkaufte Straßenzeitung Deutschlands.
Rund 530 Verkäufer sind für die Redaktion im Einsatz und ihre Lebenswelt spiegelt sich auch in den Artikeln wider - geschrieben aber werden die Texte von Journalistinnen und Journalisten. Schwerpunkte sind Obdachlosigkeit, Armut, Zuwanderung, schlecht bezahlte Arbeit und fehlende oder überteuerte Wohnungen.
Der ehemalige Obdachlose Klaus hält vor einem Kaufhaus in Hamburg einen Stapel des Straßenmagazins "Hinz & Kunzt" in der Hand. 
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Neue Chefredakteurin Annette Bruhns

In der Corona-Pandemie sei der Absatz zurückgegangen, sagte Annette Bruhns im Dlf. Sie ist die neue Chefredakteurin von "Hinz&Kunzt" und folgt auf die langjährige Chefin Birgit Müller.
Zwar habe man ein Hygienekonzept entwickelt, um weiter auf der Straße verkaufen zu können. Jedoch seien viel weniger Kunden unterwegs als sonst, so Bruhns: Das vergangene Jahr sei eine "sehr, sehr schwierige Zeit für die Verkäuferinnen und das gesamte Projekt" gewesen.

Straßenmagazin "in ein Digitalprodukt verwandeln"

Bruhns kommt vom "Spiegel", war dort über 25 Jahre lang journalistisch tätig und bringt reichlich Erfahrung mit - auch für die Herausforderungen, vor denen "Hinz&Kunzt" steht.
"Was auf jeden Fall weiterentwickelt werden muss, ist die Digitalisierung", meint Bruhns. Da stehe "Hinz&Kunzt" wie alle Straßenmagazine der Welt vor der Herausforderung, dass man ein Printprodukt, das auf der Straße verkauft werde, in ein Digitalprodukt verwandeln müsse: "Das ist in manchen Ländern schon gelungen. Dass man das zum Beispiel im QR-Code sich auf sein Handy scannen kann."
Die Journalistin Annette Bruhns sitzt 2019 auf einer Bühne der Frankfurter Buchmesse
"Wir leben auch von Spenden" - die neue "Hinz&Kunzt"-Chefredakteurin Annette Bruhns (imago images / Michael Debets)
Christoph Sterz: Sie sagen, sie haben nun "den tollsten Job". Warum sehen sie das so?
Annette Bruhns: Ja, weil sie einerseits die Möglichkeit haben, hier als Chefredakteurin 60 Seiten jeden Monat zu füllen und das nicht nur mit tollen Artikeln, sondern auch tollen Fotos, keinen Stockfotos, sondern von Fotografen, die ebenso engagiert sind, auch für "Hinz&Kunzt" zu arbeiten, aber eben auch für "Stern", "Spiegel", "Zeit" und so weiter.
Das heißt, wir haben die Besten und gleichzeitig geben sie Menschen Arbeit. Menschen, die die unterprivilegiertesten Menschen in unserer Gesellschaft sind, nämlich wohnungslose Menschen, die ja zu Unternehmern werden, denn die kaufen "Hinz&Kunzt", um es wieder zu verkaufen und dürfen dann sozusagen das Doppelte dafür verlangen. Das heißt, sie machen damit einen Gewinn.

"Die Finger in die Wunden legen"

Sterz: Jetzt ist "Hinz&Kunzt" ja ein professionell gemachtes Magazin mit 60 Seiten jeden Monat. Es ist anerkannt in Hamburg und auch darüber hinaus. Und sie sagen, dass Hinz und Kunst die soziale Stimme in Hamburg ist. Aber ist diese Stimme nicht trotzdem ganz schön klein?
Bruhns: Das ist eine sehr schwierige Frage. Was ich höre von anderen Kollegen, dass sie durchaus lesen, was wir machen, und diese Stimme sozusagen dadurch auch weiter kommt. Also der Hörfunk, der NDR, die Kollegen vom "Hamburg Journal", aber auch vom "Hamburger Abendblatt", von der "Mopo", die lesen uns und geben das dann weiter. Das ist der eine Verbreitungsweg, dass unsere Themen dadurch aufgegriffen werden, dass sich die Politik natürlich ärgert, wenn wir die Finger in die Wunden legen.
Der ehemalige Obdachlose Klaus hält vor einem Kaufhaus in Hamburg einen Stapel des Straßenmagazins "Hinz & Kunzt" in der Hand. 
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"Wir leben auch von Spenden"

Sterz: Was wollen Sie denn als neue Chefredakteurin anders machen als Ihre langjährige Vorgängerin?
Bruhns: Ich bin nicht angetreten, um Dinge anders zu machen. Ich bin angetreten, um Dinge weiterzuentwickeln. Was auf jeden Fall weiterentwickelt werden muss, ist die Digitalisierung.
Da steht "Hinz&Kunzt", wie alle Straßenmagazine der Welt, vor der Herausforderung, dass wir ja davon leben, dass man ein Printprodukt den Verkäufern in die Hand gibt. Das in ein Digitalprodukt zu verwandeln, das ist in manchen Ländern schon gelungen. Dass man sich das zum Beispiel im QR-Code auf sein Handy scannen kann.
Das ist aber in Deutschland noch nicht so weit und das muss einfach kommen, weil immer mehr Menschen, jüngere Menschen das so nicht lesen.
Das andere Problem ist die Bezahlbarkeit. Viele Leute gehen inzwischen ohne einen Euro in der Tasche aus dem Haus, und die müssen das auch mit ihren Karten bezahlen können. Das sind dicke Bretter. Und natürlich versuchen wir, über Social Media, Instagram und so weiter auf "Hinz&Kunzt" hinzuweisen, sozusagen um die Marke dort zu propagieren.
Wir leben auch von Spenden. Wir sind, ja wir haben keine institutionelle Förderung in irgendeiner Weise, aber wir brauchen Spenden, denn allein vom Verkauf der Zeitungen kann so ein Projekt nicht leben.

Coronapandemie ist "eine sehr, sehr schwierige Zeit"

Sterz: Und dann ist da ja noch dieses Corona. Ich nehme mal an, das trifft Sie als Straußenmagazin besonders hart.
Bruhns: Der Absatz geht zurück. Wir waren im März und April auch im Lockdown. Diesmal hatten wir große Fragen, ob wir das überhaupt wagen können, den Verkäufern das zuzumuten. Wir haben entschlossen, ja, sie sind selbst verantwortlich, wir dürfen sie nicht bevormunden. Das ist der ethische Aspekt.
Der andere Aspekt ist, dass wir natürlich seitdem Hygiene-Konzepte entwickelt haben, wie so viele, und der Straßenverkauf erlaubt ist, er ist ja auch draußen. Die Verkäuferinnen tragen Masken, aber es sind ja viel weniger Kunden unterwegs und es gibt keine Restaurants, in denen man verkaufen kann. Natürlich ist das ein wahnsinniger Rückgang und eine sehr, sehr schwierige Zeit für die Verkäuferinnen und das gesamte Projekt.
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"Hohes Gut, dass man journalistisch unabhängig ist"

Sterz: Wäre es da nicht gut, dass sie dann auch vielleicht doch mal öffentliche Zuschüsse bekommen?
Bruhns: Ja, aber da verliert man doch seine Unabhängigkeit. Wir sind ja ganz besonders unabhängig, weil wir eben keine institutionelle Förderung bekommen und auch verschiedene Spenderinnen haben, dass wir niemandem verantwortlich sind. Und das ist ja ein hohes Gut, dass man journalistisch unabhängig ist.
Sterz: Okay, diese Unabhängigkeit könnte aber ja die Möglichkeit bieten, dass sie mit anderen Straßenmagazinen in Deutschland zusammenarbeiten. Wäre das eine Idee? Einfach auch, um stärker dazustehen, quasi auch als eine Stimme für deutsche Wohnungslose?
Bruhns: Das ist eine super Frage. Dafür bin ich absolut und dafür werde ich auch werben innerhalb der Straßenmagazinszene. Und was Sie ansprechen mit institutioneller Förderung. Zum Beispiel für diese digitale Bezahlbarkeit. Da schließen wir uns schon zusammen und da schielen wir natürlich hin und haben auch direkt das Bundeswirtschaftsministerium angesprochen: Ihr habt da einen Topf für Verlage, vergesst die Straßenmagazine nicht.
Das ist total wichtig. Die erfüllen ja viel mehr Funktionen als nur die publizistische. Wie gesagt, sie sind auch eine Möglichkeit für Obdachlose, eine Hilfe zur Selbsthilfe, um zurück in den ersten Arbeitsmarkt zu kehren.

"Ich habe immer unabhängigen Journalismus machen können"

Sterz: Sie sagen ja jetzt, Sie sind eine wichtige Stimme. Also nicht Sie selber, sondern Ihr Magazin. Aber trotzdem nochmal die Frage. Jetzt, so nach den ersten Wochen und vor allem nach den ersten Tagen im Amt als Chefredakteurin haben Sie dann nicht so ein Bauchgrummeln? Hätte ich den Spiegel wirklich verlassen sollen?
Bruhns: Wenn man das nach so kurzer Zeit schon hätte, dann hätte man sich ja wirklich schlecht entschieden. Nein, ich stehe vor so großen Herausforderungen bei der Gestaltung des Heftes und auch natürlich bei den Innovationen, dass ich an sowas überhaupt nicht denke, nein.
Sterz: Und denken Sie daran, dass Sie vielleicht jetzt so ein bisschen mehr zur Aktivistin als zur Journalistin werden?
Bruhns: Sie fragen die Frau, die ProQuote gegründet hat. Das wissen Sie ja, was das ist. Die Frau, die sozusagen für mehr Chefredakteurinnen in Deutschland gekämpft hat und deshalb auch immer aus der Branche und selbst von Kollegen angegriffen worden ist, Aktivistin zu sein.
Ich habe trotzdem immer unabhängigen Journalismus machen können und bin da absolut der Überzeugung, dass das auch der Weg war, warum ProQuote so erfolgreich war. Weil wir diesen Pfad nicht verlassen haben. Und genau so gedenke ich das auch bei "Hinz&Kunzt" zu machen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.