Donnerstag, 28. März 2024

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Streit um Abschiebungen
"Afghanistan ist kein sicheres Land"

Der menschenrechtspolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Tom Koenigs, lehnt die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber nach Afghanistan ab. Das Land sei nicht sicher, sagte Koenigs, im DLF. Die Bundesregierung sollte ihre Lageeinschätzung überdenken.

Tom Koenigs im Gespräch mit Sandra Schulz | 28.02.2017
    Der menschenrechtspolitische Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Tom Koenigs
    Der menschenrechtspolitische Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Tom Koenigs (picture-alliance / dpa / Arne Dedert)
    Koenigs rief die Bundesregierung dazu auf, sich nicht nur auf Aussagen von Botschaftsangehörigen zu verlassen, sie sollte auch internationale Hilfsorganisationen vor Ort befragen. Koenigs betonte, um in Afghanistan ein Zeichen zu setzen, müsse man dort die richtige Politik machen. Man sollte die Menschen informieren, dass sich der "schwierige und gefährliche Weg" nach Deutschland nicht lohne.
    Koenigs, der UNO-Sonderbeauftragter der Unterstützungsmission in Afghanistan war, warb zudem dafür, mehr über Integration als über Abschiebung zu diskutieren. Da gebe es Missstände und Herausforderungen. "Die wenigen Abschiebungen, die symbolisch sein sollen, würden nicht weiterhelfen". Mit Blick auf die uneinheitliche Haltung der Bundesländer zum Thema Abschiebungen meinte er, dies liege "bedauerlicherweise" nicht in deren Zuständigkeit, darüber zu entscheiden. "Es gibt einzelne Bundesländer, die den Widerstand proben". Dies sei aber zeitlich begrenzt. So könne Schleswig-Holstein die Abschiebungen nach Afghanistan nicht verhindern, nur verzögern.

    Das Interview in voller Länge:
    Sandra Schulz: Die Balkan-Route ist weitgehend dicht, noch hält das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei und zuletzt konzentrierte sich die Diskussion um die Flüchtlingspolitik darum auf die Frage: Schiebt Deutschland zu wenig Menschen ab, die hier kein Recht auf Asyl haben, wie es zuletzt aus der Union hieß? Oder sind es viel zu viele, wie die Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl meint? Oder ist zumindest jede Abschiebung nach Afghanistan eine zu viel, weil das Land zu unsicher ist? Das kritisiert Grünen-Chef Cem Özdemir. Oder ist das wiederum nur grüne Theorie, weil eine Reihe grün regierter Länder weiter nach Afghanistan abschieben? Darüber können wir in den kommenden Minuten sprechen, am Telefon ist Tom Koenigs, Bundestagsabgeordneter von Bündnis 90/Den Grünen, Obmann seiner Fraktion im Menschenrechtsausschuss, und vor gut zehn Jahren leitete er für die Vereinten Nationen als UN-Sonderbeauftragter die Friedensmission in Afghanistan. Schönen guten Morgen, Tom Koenigs!
    "Es gibt dort keine sicheren Räume, in die man abschieben kann"
    Tom Koenigs: Guten Morgen, Frau Schulz!
    Schulz: Dürfen Menschen nach Afghanistan abgeschoben werden?
    Koenigs: Ich glaube, generell nicht. Die Situation in Afghanistan – und das zeigen viele Berichte und Analysen – ist so, dass es dort keine Räume gibt, in die man abschieben kann, das heißt keine sicheren Räume. Und dahin, wo abgeschoben wird, kann man es auch überhaupt nicht kontrollieren. Ich glaube, die Bundesregierung sollte ihre Bewertung danach ausrichten, was internationale Organisationen wie der Hochkommissar für Flüchtlinge, der ja durchaus zuständig ist, sagen: Nach Afghanistan kann man zurzeit nicht abschieben.
    "Eine Neubewertung der Situation in Afghanistan nötig"
    Schulz: Ja, diese Forderung ist jetzt von vielen grünen Politikern gekommen. Aber warum sind die Grünen in ihrer Haltung denn da so uneinheitlich? Sie kritisieren die Abschiebungen, die Kritik kommt auch aus der Parteispitze, aber es gibt eine ganze Reihe von Bundesländern – eben Baden-Württemberg, Hessen, Nordrhein-Westfalen –, die zuletzt nach Afghanistan abgeschoben haben.
    Koenigs: Es ist bedauerlicherweise nicht in der Zuständigkeit der Länder, darüber letztlich zu entscheiden. Es gibt einzelne Länder, die dort den Widerstand proben, der ist aber auch zeitlich begrenzt. Und das, was nötig ist, ist eine Neubewertung der Bundesregierung über die Situation in Afghanistan. Und ich kann nur dringend dazu raten, da nicht nur die Botschaftsangehörigen zu fragen, sondern eben auch die Organisationen, die in der Fläche tätig sind. Und das ist zum Beispiel das Afghanistan Network, das ist zum Beispiel die wissenschaftliche Analyse einzelner Institute, die dort präsent sind, oder eben auch die Vereinten Nationen.
    "Baden-Württemberg muss sich an die gerichtlichen Urteile halten"
    Schulz: Aber das ist doch ein Widerspruch: Wenn Sie diese Kritik so deutlich äußern und auch die Bundesregierung äußern, es trotzdem das Instrument des Abschiebestopps gibt, und wenn wir dann auf einen Fall schauen oder auf zwei Fälle aus Baden-Württemberg aus der letzten Woche, über die die "Süddeutsche Zeitung" berichtet hat, das ging um zwei Männer, zwei Afghanen, die wurden nach gerichtlichen Entscheidungen in allerletzter Minute aus dem Flugzeug geholt, der eine war psychisch krank, der andere war der Vater eines minderjährigen Kindes. Baden-Württemberg ist ja nun das einzige Land mit einem grünen Ministerpräsidenten. Ist das auch grüne Asylpolitik?
    Koenigs: Baden-Württemberg muss sich auch an die gerichtlichen Urteile halten, in dem Fall positive für die Flüchtlinge. Und Baden-Württemberg kann nicht Widerstand gegen die Bundeszuständigkeiten leisten. Man kann das eine Weile aufhalten, wie das Schleswig-Holstein tut, ich glaube aber, grundsätzlich zu sagen, wir führen die Weisungen der Bundesregierung nicht aus, das führt nirgendwo hin und hält die Sache ja auch nur eine Zeit lang auf. Und ich glaube, man muss sich ganz deutlich entscheiden, die Bewertung anders zu machen, der Realität anzupassen, der Realität, dass bedauerlicherweise die Lage in Afghanistan eher unsicherer wird als sicherer. Und von daher kann ich Baden-Württemberg nicht auffordern, Widerstand gegen die Bundesregierung zu leisten, der gesetzlich höchst fragwürdig ist und sicher auch nur eine kurze Zeit, das heißt nur symbolisch möglich wäre, sondern ich kann nur die Bundesregierung auffordern, ihre Bewertung zu überdenken.
    "Wir sollten viel mehr über Integration als über Abschiebung diskutieren"
    Schulz: Also das, was in Schleswig-Holstein gemacht wird, das ist Symbolpolitik, von Rot-Grün und deren Koalitionspartnern?
    Koenigs: Schleswig-Holstein kann drei Monate lang diese Abschiebungen aufhalten, kann sie aber nicht verhindern bei der gegenwärtigen Gesetzeslage. Ich finde übrigens, dass wir gegenseitig viel mehr über Integration als über Abschiebung diskutieren sollten. Da sind die Missstände und da sind auch die massenhaften Herausforderungen für uns. Diese wenigen Abschiebungen, die ja symbolisch sein sollen, helfen nichts. Ich glaube, sie helfen auch nicht, das, was eigentlich damit beabsichtigt wird, nämlich in Afghanistan ein Zeichen zu setzen, das wirklich wirksam zu machen. Da muss man, glaube ich, in Afghanistan die richtige Politik machen und die Leute richtig informieren, dass es sich eben für viele nicht lohnt, den schwierigen und gefährlichen Weg nach Deutschland zu unternehmen.
    Schulz: Oder ist das Strategie, dass sich die Grünen jetzt im aufkeimenden Bundestagswahlkampf da einfach ein bisschen tänzelnd zeigen, härtere Hand unten in Baden-Württemberg, bei Realo Winfried Kretschmann, und in Berlin, da darf man ruhig ein bisschen mehr theoretisieren, weil man da ja keine Regierungsverantwortung hat?
    Koenigs: Das hat nichts mit härtere Hand zu tun, sondern das hat mit Umsetzung der Bundesgesetze zu tun.
    Schulz: Wieso …
    Koenigs: Ich glaube nicht, dass Schleswig-Holstein sehr weit kommt mit dem Widerstand gegen eine Zuständigkeit, die ganz eindeutig geregelt ist. Und ich glaube auch nicht, dass es furchtbar viel hilft, das drei Monate aufzuhalten. Ich glaube, das, was hilft, ist, dafür zu arbeiten und darauf Einfluss zu nehmen, dass die Einschätzung den Loyalitäten angepasst wird.
    "Man sollte nach Afghanistan nicht abschieben"
    Schulz: Jetzt kommt der Druck ja für Sie sozusagen aus beiden Seiten: Aus der Union heißt es ja ohnehin, es würden viel zu wenig Menschen abgeschoben. Wie ist es denn zu rechtfertigen – auch in Afghanistan, auch bei den gerichtlichen Verfahren ist die Quote ja bei 40/60 –, wie ist es zu rechtfertigen, dass jemand, der einen Antrag auf Asyl gestellt hat, der kein Asyl bekommen hat, der zu Gericht gegangen ist, auch da nicht Recht bekommen hat, der das Land verlassen muss, dass der dann nicht geht?
    Koenigs: Es müssen ja ganz viele auch deshalb geschützt werden, weil man sie nicht in eine Situation hin abschieben kann, wo ihr Leib und Leben gefährdet ist. Und da ist in Afghanistan der Fall. Die wenigen Fälle, wo sich die Gerichte entschieden haben, auch dann in letzter Instanz eine Abschiebung zuzulassen, die berufen sich dann immer auf Einschätzungen, die immer wieder wiederholt werden, die aber gegenwärtig meines Erachtens unzeitgemäß sind. Deshalb finde ich, man sollte nach Afghanistan nicht abschieben. Und ich kenne das Land und der außenpolitische Sprecher von uns ist auch jetzt extra deshalb noch mal hingereist, der hat versucht, einen der Abgeschobenen dort zu besuchen. Das ist nicht möglich gewesen aus Sicherheitsgründen. Also, da beweist sich doch sofort, dass das, was hier analysiert wird – Afghanistan ist in manchen Bereichen ein sicheres Land, so wird gesagt –, nicht stimmt.
    "Türkei tritt die Pressefreiheit und auch andere Menschenrechte mit Füßen"
    Schulz: Tom Koenigs, jetzt müssen wir heute Morgen noch auf ein anderes Thema schauen: Der Untersuchungsrichter in Istanbul hat gestern Abend Untersuchungshaft angeordnet gegen Deniz Yücel. Die Entscheidung sorgt in Berlin für Kritik und Enttäuschung, und wir sprechen darüber auch gleich weiter, aber vorher fasst Sandra Schwarte Reaktionen aus Berlin zusammen.
    ((Bericht))
    Tom Koenigs, jetzt gab es ja häufiger die Kritik von den Grünen: Die Regierung redet keinen Klartext. Ist diese Kritik jetzt deutlich genug?
    Koenigs: Ich glaube, dass die Kritik einhellig ist, und ich kann mich dem nur anschließen. Das heißt natürlich für das Verhältnis von Deutschland zur Türkei, dass man da auch sehr deutlich machen muss, dass das äußerst abträglich ist. Wir haben ja in der Vergangenheit schon gesehen, dass die Türkei im Augenblick unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung die Pressefreiheit und auch andere Menschenrechte mit Füßen tritt. Jetzt hat es auch einen Deutschen betroffen und ich glaube, das ist der Moment, wo die deutsche Bundesregierung, aber auch alle anderen, die mit der Türkei in irgendeiner Weise zu tun haben, ihre Stimme erheben müssen. Man muss für den einzelnen, aber auch für die anderen zahlreichen türkischen Journalisten kämpfen. In dem Fall, wo es ein Deutscher ist oder einer, der auch die deutsche Staatsbürgerschaft hat, und auch einen, den wir kennen, den wir auch in seinen moderaten Berichten kennen, ist es umso mehr wichtig, dass wir alle möglichen Aktionen unternehmen, auch Demonstrationen, um den Journalisten freizubekommen.
    "Die Anordnung von Untersuchungshaft ist ein politisches Urteil"
    Schulz: Da ist für heute ja auch einiges angekündigt. Diese deutlichen Worte, die Sie jetzt auch gerade noch mal fordern, sind ja nun schon gefallen. Was bringt das Deniz Yücel?
    Koenigs: Zunächst mal ist das ja ein politischer Prozess, auch die Anordnung von Untersuchungshaft ist ein politisches Urteil. Und politische Urteile müssen auch politisch diskutiert werden. Ich glaube, die Türkei geht da weit weg von dem, was rechtlicher Standard, menschenrechtlicher Standard in Europa ist, und man muss klarmachen, dass das natürlich für die gesamte Beziehung zu Europa, nicht nur zu Deutschland, eine riesige Bedeutung hat. Ich glaube, in diesem Moment zum Beispiel Wahlveranstaltungen mit dem Präsidenten von der Türkei zu erlauben, ist sicher der falsche Weg. Man muss sehr deutlich machen, dass die Beachtung der Menschenrechte in unserem Nachbarland, also dem Nachbarland von Europa, eine Bedingung dafür ist, dass man die Beziehungen so weitermacht, wie man sie bisher hat.
    Schulz: Und wenn das nicht hilft?
    Koenigs: Wenn das nicht hilft, muss man wie in anderen Fällen, wo Menschen zu Unrecht festgenommen werden oder in Haft sitzen, weiterarbeiten, weiter Aufmerksamkeit machen, weiter nach Möglichkeiten suchen. Da darf man nicht nachlassen.
    Schulz: Jetzt ist die Situation ja die, dass es um Straftatbestände geht, die es in ähnlicher Form teilweise im deutschen Recht auch gibt, also, die Unterstützung terroristischer Vereinigungen ist in Deutschland ja auch strafbar. Und wir hatten hier in der vergangenen Woche im Deutschlandfunk einen AKP-Abgeordneten, der hat jetzt nicht speziell im Fall Yücel gesagt, aber sagt: Ja, wir haben unsere Antiterrorgesetze, bei uns geht alles rechtstaatlich zu, wir arbeiten das nach unseren Gesetzen ab und das ist alles so, wie der Rechtstaat es vorsieht, ihr habt auch eine harsche Herangehensweise gehabt oder die USA zum Beispiel nach 9/11. Was antworten Sie da?
    Koenigs: Die USA hat eine teilweise illegale Herangehensweise gehabt und hat sie noch, wie man das in Guantánamo sieht, mit Folter und allem. In Deutschland haben wir sehr genau definierte Rechtstatbestände und einen politischen gefangenen Journalisten haben wir in Deutschland nicht.
    Schulz: Tom Koenigs, menschenrechtspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Den Grünen heute Morgen hier bei uns im Deutschlandfunk. Ganz herzlichen Dank Ihnen!
    Koenigs: Danke sehr, Frau Schulz!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.