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Streit um den Schlagbaum

Zuerst war es ein Streit zwischen Nachbarn: Italien hatte Flüchtlinge aus Afrika quasi animiert, nach Frankreich weiterzureisen. Paris machte daraufhin die Grenzen dicht. Mittlerweile diskutiert die gesamte EU: über Freiheit, Solidarität und den europäischen Geist.

Von Doris Simon | 11.05.2011
    Surrealistisch sei die Debatte um Schengen, fasste die linke französische Europaabgeordnete Marie-Christine Vergiat ihre Eindrücke zusammen: Da solle die Reisefreiheit von Millionen Europäern eingeschränkt und Grenzkontrollen wieder eingeführt werden, um einem nur vorgeblich massenhaften Zustrom von Flüchtlingen zu begegnen? Eigentlich müsste man darüber lachen, wenn die Konsequenzen der Politik nicht so real und dramatisch wären, findet die französische Europaabgeordnete.

    In Sachen Schengen ist sich das Europäische Parlament einig, mit nur ganz wenigen Ausnahmen: Die Abgeordneten warnten die Europäische Kommission und die 27 Mitgliedsstaaten, nicht an der Freizügigkeit zu rühren. Das sei eine der größten europäischen Errungenschaften. Ob polnischer Konservativer, dänischer Liberale, deutscher CSU-Abgeordneter oder spanischer Sozialdemokrat, alle warnten in Straßburg vor der Rückkehr von Grenzkontrollen in Europa. Fast alle Europaabgeordneten sehen mit Skepsis, dass der Vorschlag der Europäischen Kommission zur Migrationspolitik die Möglichkeit vorsieht, Grenzkontrollen wieder einzuführen, wenn ein Land nicht mehr fertig wird mit dem Zustrom von Flüchtlingen. Die Liberalen würden gegen eine Wiedereinführung von Grenzkontrollen mit allen Mitteln kämpfen, kündigte deren Fraktionsvorsitzender Guy Verhofstadt an, und hofft dabei auf die Unterstützung des gesamten Europaparlamentes:

    "We will fight with all means and I hope the whole parliament is fighting!"

    Stattdessen forderte der liberale Fraktionschef, die Europäische Kommission solle eine strengere Einhaltung der geltenden Schengen-Regeln durchsetzen. Diese erlauben Grenzkontrollen ausnahmsweise nur bei der Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit. Das Vorgehen Italiens und Frankreichs bezeichnete Verhofstadt, selber früher belgischer Regierungschef, als Ping-Pong auf dem Rücken der Flüchtlinge – es habe Europa und seinem Image schwer geschadet. Der sozialdemokratische Fraktionsvorsitzende Martin Schulz warf der Europäischen Kommission vor, mit ihrem Änderungsvorschlag zu Schengen auf den Populismus von Frankreichs Staatspräsident Sarkozy und Italiens Premierminister Berlusconi einzugehen. 25.000 Migranten aus Tunesien seien noch lange kein Grund, die Reisefreiheit der Europäer einzuschränken.

    "Der europäische Geist geht uns verloren. Wie kann es sein, dass Freizügigkeit aufgrund eines marginalen Problems von zwei Staatschefs mutwillig außer Kraft gesetzt wird? Wie kann das möglich sein?"
    Es gehe nicht darum, die Reisefreiheit für Europas Bürger einzuschränken, rechtfertigte José Manuel Barroso, der Präsident der Europäischen Kommission, die Änderungsvorschläge zu Schengen. Aber die Regeln müssten konkretisiert werden und es müsse eine europäische Aufsicht über die Umsetzung der Freizügigkeitsregeln kommen, so wie dies die Europäische Kommission schon im letzten Jahr vorgeschlagen habe, sagte Barroso den Europaabgeordneten:

    "Wir dürfen nicht blind sein und die Augen davor verschließen, dass die jüngsten Ereignisse ein Problem bei der Umsetzung von Schengen offenbart haben. Das müssen wir lösen. Wenn wir die bestehenden Mechanismen nicht verstärken, dann werden Mitgliedsländer weiterhin allein entscheiden. Die werden ja noch ermuntert, ohne Rücksprache allein Grenzkontrollen einzuführen. Da versorgen wir Populisten mit Argumenten und Ausländerfeinde, die die großartige europäische Errungenschaft der Freizügigkeit in Frage stellen wollen."

    Europa sollte auf den Zustrom von Migranten nicht mit einem Vorschlag zu neuen Grenzkontrollen reagieren, sondern mit Solidarität und Lastenverteilung der Länder untereinander, kritisierten vor allem Europaabgeordnete aus den südlichen EU-Staaten und die Grünen im Europaparlament. Daniel Cohn-Bendit, der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europaparlament, forderte, die EU müsse den tunesischen Migranten zeitlich beschränkte Aufenthaltsgenehmigungen erteilen und auf eine solidarische Aufteilung der Flüchtlinge in der ganzen EU drängen. Nicht die Flüchtlinge aus Nordafrika, sondern die Europäer und ihre Unfähigkeit solidarisch zu handeln, seien das wahre Problem der EU. In Wirklichkeit werde auch eine Neuregelung von Schengen nur die anderen und nicht die EU-Bürger einschränken, sagte Cohn-Bendit:

    "Niemand wird sie oder wird mich kontrollieren. Aber dunkelhäutige Menschen, die, die anders sind, die werden kontrolliert werden. So schaffen wir ein Europa à la carte. Die Weißen dürfen rein, die Dunkelhäutigen bleiben draußen. Gegen dieses Europa wollen wir kämpfen!"