Dienstag, 16. April 2024

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Streit zwischen Russland und Polen
Es geht um "die Herrschaft über die richtige Geschichtserzählung"

Beim Streit zwischen Russland und Polen gehe es um die Deutungshoheit über die richtige Geschichtserzählung, sagte der Historiker Peter Oliver Loew im Dlf. Polen sei im Zweiten Weltkrieg vor allem Opfer gewesen. Die Vorwürfe von Wladimir Putin seien aus Sicht der Geschichtswissenschaft letztlich Humbug.

Peter Oliver Loew im Gespräch mit Maja Ellmenreich | 22.01.2020
Ein Blick in das Holocaust-Memorial Yad Vashem. In einem Betonkegel sind unzählige Fotos von Überlebenden der Shoah zu sehen.
Blick in die israelische Gedenkstätte Yad Vashem: 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz werden hier Staatschefs aus aller Welt erwartet (Getty Images/Lior Mizrahi)
Maja Ellmenreich: Er darf? Und ich nicht? Auf diese sehr vereinfachte Formel sind wohl die diplomatischen Querelen zu bringen, die das morgige Welt-Holocaust-Forum in der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem begleiten. Während an die 50 Staats- und Regierungschefs nach Israel reisen, um über das künftige Erinnern an den Holocaust zu sprechen - wenn keine Zeitgenossen, keine Überlebenden mehr davon erzählen können - während sich also die Welt in Yad Vashem trifft, aus Anlass des 75. Jahrestages der Befreiung des NS-Vernichtungslagers Auschwitz, bleibt Polens Präsident Andrzej Duda der Veranstaltung fern. Er nämlich darf nicht reden beim offiziellen Gedenkakt, dafür aber - neben Israel und Deutschland - Vertreter der vier Alliierten des Zweiten Weltkriegs: für Russland wird Präsident Wladimir Putin sprechen. Putin? Und Duda nicht? Dann lieber gar nicht erscheinen, so Dudas Devise.
Mit dem Direktor des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt, mit dem Historiker Peter Oliver Loew, habe ich über die historischen und aktuellen Hintergründe dieses Boykotts gesprochen. Herr Loew, Hintergrund von Dudas Absage ist ja ein Geschichtsstreit zwischen Polen und Russland. Kann man den so zusammenfassen: Beide wollen ihre Kollaboration mit Hitler-Deutschland, ihre Beteiligung am Holocaust herunterspielen?
Peter Oliver Loew: Da muss man differenzieren, Frau Ellmenreich. Wenn man Polen eine Kollaboration vorwirft, so ist das sehr ungerecht, weil Polen im Grunde selbst Opfer des NS-Überfalls gewesen ist. Und eine Mitbeteiligung am Holocaust kann man allenfalls einzelnen Gruppen in der polnischen Gesellschaft zum Vorwurf machen. Es geht letztlich bei Putin und Duda und diesem Streit um den Kampf um die Deutungshoheit, um die Herrschaft über die richtige Geschichtserzählung. Putin sagt, Polen trägt eine Mitschuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und Polen sei generell ein latent antisemitisches Land gewesen, schiebt also den Schwarzen Peter letztlich Polen zu.
Aus polnischer Perspektive und aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft ist das letztlich aber Humbug. Polen ist sehr viel stärker Opfer gewesen, und vor diesem Hintergrund blieb Duda letztlich keine andere Wahl, als zu sagen: Ich kann nicht nach Israel fahren, wenn ich dort nicht als Vertreter des Landes, das unwillentlich zum Schauplatz des Holocaust und des gewaltigen Mordens geworden ist, wenn ich nicht selbst zu Wort kommen kann.
Loew: "In allen Ländern gab es Antisemitismus"
Ellmenreich: Sie haben also Verständnis für die Haltung und die Entscheidung von Andrzeij Duda und würden sozusagen an seiner Seite damit rechnen, dass Wladimir Putin die Bühne in Yad Vashem nochmal nutzt, um diese de facto falschen Tatsachen vorzuführen?
Loew: Das sind die Befürchtungen in Polen. Man hat gesagt, entweder darf Duda dort den Standpunkt Polens vortragen und der bereits im Gange befindlichen geschichtspolitischen Offensive Russlands etwas entgegen setzen - oder wir lassen es sein, es macht keinen Sinn, dass er dort steht, in die Kameras lächelt und nichts sagen darf.
Ellmenreich: Ich möchte nochmal auf Ihren Satz zurückkommen, dass Polen doch in erster Linie Opfer war damals und nicht unbedingt Täter. Wladimir Putin betont ja immer wieder in seinen Aussagen auch den starken Antisemitismus in den Zwischenkriegsjahren. Also liegt Putin komplett falsch mit seiner Argumentation?
Loew: Antisemitismus war nichts, was den Gesellschaften Europas in der Zwischenkriegszeit fremd gewesen war. In allen Ländern Europas gab es Antisemitismus. Und wenn man sich vor Augen führt, dass Polen das Land war, in dem die meisten Juden im östlichen Europa lebten, zahlenmäßig, prozentual, so ist es natürlich, dass es auch eine bestimmte Zahl von Menschen gab, die Antisemiten waren oder sich antisemitischer Propaganda und Politik irgendwie unterwarfen.
Es gab Antisemitismus - und Antisemitismus wurde in den letzten Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg auch ein wenig zur Regierungspolitik. Aber das war, sagen wir, ein Antisemitismus, der überhaupt nicht im Kontext des Holocaust zu sehen ist, sondern wenn, so dachten selbst die polnischen Nationalisten, die Rechten nur daran, Polen zu verdrängen, vielleicht zur Auswanderung zu bewegen, dazu beizutragen, dass die Konkurrenz für die nichtjüdischen Polen auf dem Arbeitsmarkt geringer wird. Das jetzt im Kontext des Holocaust den Polen zum Vorwurf zu machen, ist zutiefst unhistorisch.
Polnisches Holocaust-Gesetz war "absoluter Fehler"
Ellmenreich: Fakt ist aber auch, dass die Erinnerungspolitik in Polen erst jetzt seit einigen Jahren, seit der PiS-Regierung doch insbesondere sehr nationalistisch ist. Wir denken nur an die Debatte über das sogenannte Holocaust-Gesetz, über das wir mit Ihnen hier in "Kultur heute" auch schon gesprochen haben.
Loew: Ja, das ist ein Teil der PiS-Geschichtspolitik, zu versuchen, die Opferrolle der Polen hervorzuheben und mögliche schändliche Elemente der polnischen Geschichte unter den Teppich zu kehren. Und dann hat man dieses Gesetz versucht zu erlassen, oder erlassen, es wurde dann ja zurückgenommen, das besagte, dass jedes Reden über eine mögliche Mitverantwortung von Polen bei der Verfolgung von Juden, bei der Ermordung, beim Holocaust, unter Strafe gestellt werden sollte. Das war ein absoluter Fehler der polnischen Regierung, dieses Gesetz überhaupt jemals durchgeboxt zu haben, weil es darauf einen unerhörten Aufschrei in der gesamten westlichen Welt gab und natürlich auch unter fast allen Juden. Das ist unvorstellbar, quasi die historische Wahrheit per Gesetz dekretieren zu wollen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.