Freitag, 19. April 2024

Archiv

Streitfall Sterbefasten
Wenn Menschen ihr Leben durch Nahrungsverzicht beenden

Lebenssatt auf Nahrung und Flüssigkeit verzichten - das ist die Idee des Sterbefastens. Das klingt nach mildem, spirituellem Abschied, die Methode kann aber ethisch und juristisch komplexe Fragen aufwerfen. Wie reagieren Angehörige und Pflegekräfte, wenn sie mit diesem Wunsch konfrontiert werden?

Von Ursula Reinsch | 26.02.2020
Die Hände einer alten Frau mit einer Blume auf einer Bettdecke.
Wenn Menschen am Lebensende auf Flüssigkeit und Nahrung verzichten, werden sie oft auch palliativ betreut (dpa / Waltraud Grubitzsch)
Sterbefasten ist der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit. Wie gehen Sie damit um? Eine Frage. Drei Antworten: von der Pflegedienstleiterin eines christlichen Hospizes, von einer Sterbebegleiterin und von einer Palliativmedizinerin.
"Grundsätzlich ist es für uns kein Hinderungsgrund, betroffene Menschen aufzunehmen, die diesen Wunsch des Nahrungsverzichts, des Sterbefastens am Lebensende äußern. Da ist aber auch die Besonderheit, dass eben in einem Hospiz Menschen aufgenommen werden, deren Versterben oder deren Tod unmittelbar bevorsteht. Also die wirklich eine sehr kurze Lebenserwartung von wenigen Tagen bis Wochen haben."
"Wenn ein alter Mensch, der sagt, er ist lebenssatt, wenn derjenige sagt, es ist unerträglich, dann ist es unerträglich. Und nur der - der Sterbewillige - kann sagen, 'es ist unerträglich.' Nur der kann es empfinden. Und dass man dessen Meinung, wenn er sagt: ‚Ich will sterben – dass man das akzeptiert.‘"
"Für mich persönlich steht der Wille des Patienten an oberster Stelle in allem was wir tun, auch medizinisch."
Drei Menschen, zu deren Alltag das Sterben gehört. Auch gelegentlich das Sterbefasten. Beim Sterbefasten ist es wichtig, zwischen zwei verschiedenen Sterbeprozessen zu unterscheiden: dem natürlichen Sterbefasten am Ende eines langen Lebens. Dann, wenn ein Sterbender einfach den Mund verschließt.
Ethisch schwieriger wird es oft dann, wenn ein Mensch sich bewusst dafür entscheidet, seinem Leben durch Sterbefasten ein selbstbestimmtes Ende zu setzen. Weil er alt und vielleicht krank ist, lebenssatt und/oder leidensmüde.
Umstrittener Begriff
Der Begriff "Sterbefasten" ist in Fachkreisen umstritten. Er könnte suggerieren, dass es sich dabei immer um eine milde Form der Lebensbeendigung handele. Und er könnte eine quasi-religiöse, spirituelle Aura beinhalten, denn Fasten gilt in einigen Religionen als Askeseleistung.
Der 90-jährige Harald S. entschied sich zum Sterbefasten beziehungsweise freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit. Er war nicht krank. Er war nur alt und wollte einfach nicht mehr leben. Jahrelang lebte er mit seiner pflegebedürftigen Frau in Bonn in einer Dreizimmerwohnung. Der Sohn über den Vater:
"Aktiv hat mich das erste Mal getroffen die Auseinandersetzung mit dem Sterbefasten – der Begriff war mir da gar nicht so klar – bei meinem 90-jährigen Vater. Plötzlich merkte er, dass er nicht mehr so beweglich war und in ihm der Entschluss gereift war, nicht mehr leben zu wollen. Er hatte sonst keine Krankheiten, also er brauchte keine Medikamente, er war letztlich auch gesund. Und als er mir das sagte, war ich im ersten Moment überrascht davon."
Schock und Tabubruch
Claudia Lang, Internistin und Mitbegründerin eines mobilen Palliativteams kennt solche Situationen.
"Dann ist das oft ein großer Schock. Das ist ja ein Tabubruch auch vieler Orts noch für viele Menschen und auch entgegen ihrer religiösen Einstellung. Es kommen oft auch Schuldgefühle für die Betroffenen hinzu. Habe ich mich nicht genug gekümmert, woher kommt dieser Wunsch? Trage ich daran eine Mitschuld? Und das nächste eben auch: Diese schwierige Situation: Was kommt da auf mich zu? Meinem Angehörigen wird es schlechter gehen, der wird leiden. Eine große Angst und Unsicherheit, was da in der Versorgung, in der Begleitung zu bewältigen sein wird."
Sterbefasten kann nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen Sinn ergeben, sagen der Palliativarzt Hans-Christoph zur Nieden und seine Frau Christiane zur Nieden, Sterbebegleiterin:
"Gute Voraussetzung für Sterbefasten ist, wenn man hochbetagt ist. Und hochbetagt ist in der Medizin definiert, wenn man ein Alter von über 85 Jahren aufweist und eine schwere Erkrankung. Für junge Menschen kommt es wirklich nicht infrage. Sie werden den Durst nicht aushalten. Eine weitere wichtige Voraussetzung für Sterbefasten ist eine gewisse Charakterstärke und ein gewisses Beharrungsvermögen und eine gewisse Art stur zu sein und etwas mit Konsequenz, durchhalten zu können. Der dritte entscheidende Punkt ist, man muss begleitet sein und in dieser Begleitung kommunizieren können."
Sich wieder für das Leben entscheiden
"Kommunizieren können" das bedingt die letzte wesentliche Voraussetzung: Sterbefasten-Willige sollten bei klarem Verstand und nicht psychisch krank sein. Vor allem auch deshalb: Sie können sich aus medizinischer Sicht innerhalb von sieben Tagen noch für das Leben entscheiden, sich umentscheiden. Das ist gleichzeitig ein großer Unterschied zu anderen selbstbestimmten Todesarten.
Harald S. Vater war geistig fit, alt und willensstark, als er seinem Sohn seine Entscheidung mitteilte:
"Er fing dann sehr konsequent an, dieses Sterbefasten dann auch in die Tat umzusetzen. Er hörte dann auf– konsequent – zu essen. Er hatte die ersten zwei, drei Wochen punktuell immer mal wieder Rückfälle. Dass er mal wieder ein Stück Kuchen aß, aber das dauerte immer nur ein paar Stunden. Aber dann war es für ihn auch so, dass er sein Vorhaben doch weiter konsequent durchführte."
Immer mehr Anfragen
Viele Ärzte betreuen Sterbefastende. 60 Prozent der hausärztlich und palliativ tätigen Ärzte gaben einer Umfrage zufolge an, in den vergangenen fünf Jahren mindestens einen Patienten beim Sterbefasten begleitet zu haben, rund ein Fünftel der Ärzte mehr als fünf.
Diese Todesart hat eine bis in die Antike zurückreichenden Tradition. Schon der griechische Philosoph Demokrit soll sich im Alter von 109 Jahren dazu entschlossen haben und Marc Aurel, römischer Kaiser und Philosoph, soll ebenfalls so gestorben sein.
Buchautorin und Sterbebegleiterin Christiane zur Nieden erhält immer mehr Anfragen zum Sterbefasten:
"Wir werden angerufen von Menschen, die vollkommen verzweifelt sind, die lebensmüde sind, oder halt eben so leiden, dass sie einen so hohen Leidensdruck haben, dass sie sagen, ‚Das kann keiner nachempfinden, was ich hier aushalte, und ich möchte jetzt sterben, und ich darf nicht, ich kann nicht. Nirgends. Ich bin alleine, ich habe niemanden und ich möchte gerne sterben.‘"
Nur wenige Hospize betreuen Sterbefastende von Anfang an, zumeist erst in der finalen Sterbephase, wenn die Patienten eine ärztliche Einweisung haben. Dabei gilt Sterbefasten als "guter bis sehr guten Tod". So das Ergebnis einer Studie von Ärzte und Gesundheitsforschern aus dem US-Bundesstaat Oregon anhand von 100 Fällen vom Sterbefasten todkranker Pflegebedürftiger.
Einige Ergebnisse: 85 Prozent der Menschen, die sich für diesen Weg entschieden hatten, starben in einem Zeitraum von zwei Wochen. Deren Tod war nach Einschätzung der Schwestern und Pfleger nicht grausam: Auf einer Skala von 0 - für sehr schlecht - bis 10 - für sehr friedlich - bewerteten sie den Tod dieser Patienten durchschnittlich mit acht Punkten, also gut.
Aber, so Christiane zur Nieden, die im Pflegebereich immer wieder dies erlebt:
"Es gibt Ärzte und Pfleger die sagen, das Leben ist ein Geschenk Gottes und darf nicht vom Menschen selber beendet werden, sondern erst, wenn Gott einen holt. Aber für uns ist das dahingehend kein Problem, weil die, die wir begleitet haben, denen war das im Grunde genommen allen egal, selbst wenn sie religiös waren, weil sie so gelitten haben, und so verzweifelt waren, dass ihnen ihre Autonomie viel wichtiger war. Und jeder Arzt, jede Pflegerin darf auch sagen, aus religiösen Gründen kann ich sie nicht begleiten. Das Recht soll er haben. Das finde ich auch."
Suizid oder kein Suizid?
Sterbefasten gilt aus offizieller katholischer Sicht als Suizid und damit Sünde. Die protestantische Haltung ist prinzipiell liberaler. In der Fachwelt sagen einige Experten Sterbefasten sei weder ein Suizid noch kein Suizid, sondern befinde sich irgendwo dazwischen. Zweifellos ist Sterbefasten aber kein Sterben, das durch aktives Tun verursacht wird, sondern ein Sterben durch Nichts-mehr-tun. Aber auch das kann Begleiter von Sterbefastenden in Gewissensnöte bringen.
Palliativärztin Claudia Lang und Pflegedienstleiterin Claudia Lübbert aus dem christlichen Hospiz Sankt Nepomuk in Köln halten sich diesbezüglich an das Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin aus dem Oktober 2019. Dort heißt es: "Freiwilliger Verzicht auf Essen und Trinken ist nicht als Suizid zu bewerten." Die Bundesärztekammer hält die Betreuung von Sterbefastenden für eine palliative Aufgabe.