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"Stress - Ein Lebensmittel"
Krankmacher oder Evolutionsmotor?

Stress, richtig genutzt, ist ein Lebenselixier. Das ist die Kernbotschaft von Urs Willmann, der mit seinem Buch ein Umdenken bewirken möchte: Stress sei nicht per se schlecht und ungesund und müsse vermieden werden. Vielmehr sei er - wie eigentlich alles im Leben - in der richtigen Dosierung gesund und überlebenswichtig.

Von Dagmar Röhrlich | 24.07.2016
    Eine Frau sitzt an einem Schreibtisch vor einem Computer, den Kopf auf die Hände gestützt.
    Der Zeit-Wissenschaftsredakteur Urs Willmann will die verschriene Reaktion auf äußere Reize mit seinem Buch "Stress - ein Lebensmittel" rehabilitieren. (dpa/picture alliance/Lehtikuva Sari Gustafsson)
    Der Stress als böser Krankmacher, der Burnout und einen frühen Tod durch Herzinfarkt zur Folge hat. Das ist allgemeine Wahrnehmung. Und so hat sich der Kampf gegen den Stress zu einer lukrativen Industrie entwickelt, die alles Mögliche anbietet, vom Entspannungstee bis zum Yogakurs. Dabei ist Stress der Motor, der die Evolution seit Jahrmilliarden antreibt. Ohne äußere Reize hätte sich das Leben wohl nicht über irgendwie geartete "Urformen" hinaus entwickelt. Stress ist ein Erfolgsmodell der Evolution, an das der Mensch ebenso angepasst ist wie ein Bärlappgewächs oder Neunauge. Deshalb will der Zeit-Wissenschaftsredakteur Urs Willmann die so verschriene Reaktion auf äußere Reize mit seinem Buch "Stress - ein Lebensmittel" rehabilitieren.
    Stress, erklärt er, mache uns wach, halte uns fit und gesund, unsere Zellen jung. Stress treibt das Immunsystem an, hilft dem Gehirn, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden und macht uns anscheinend zumindest in Experimenten zu sozialeren Wesen. Er ist durch und durch vorteilhaft - jedenfalls solange er nicht zum Dauerzustand wird, denn dazu ist dieses Alarmsystem, das uns zu Höchstleistungen antreibt, von der Natur nicht "gedacht".
    Stress: Triebfeder statt Krankmacher
    Mit seiner positiven Grundeinschätzung des Stresses ist Urs Willmann nicht allein. Er kann sich vielmehr auf zahlreiche Experten berufen, von denen einige - wie Kelly McGonigal - ihre Ansichten zum Thema grundlegend revidiert haben. Hatte die Gesundheitspsychologin an der Stanford University früher den Stress verteufelt und jedem geraten, ihn in allen Lebenslagen so gut es geht zu vermeiden, weil er krank mache, sieht sie das nun vollkommen anders.
    Die Ergebnisse einer groß angelegten Studie hatten ihr klar gemacht, dass es bei den Gesundheitsfolgen nicht so sehr auf den Stress selbst ankommt, sondern auf die Einstellung der Menschen zu ihm. Nicht der Alarmzustand selbst sei das Risiko, sondern unser Glaube an ihn als Gesundheitsgefahr. Wer ihn positiv als Triebfeder sieht, kann auch mit viel Stress problemlos umgehen und uralt werden.
    Dass die pauschale Einschätzung von Stress als Krankmacher falsch ist, belegen auch Mäuseexperimente. Darin entwickelten gestresste Mäuse deutlich weniger bösartige Tumoren als entspannte Tiere. Und selbst wenn die gestressten an Krebs erkrankten, lief die Entwicklung langsamer ab. Die Ursache vermuten die Forscher darin, dass akuter Stress die Immunabwehr stärkt. Das scheint auch das Blutbild der Nager zu beweisen: Die Tiere produzierten mehr entzündungshemmende Interleukine, Interferone, die gegen Tumorzellen ankämpfen oder Chemokine, die dem Körper signalisieren, wo die Immunzellen gebraucht werden.
    Besser kurzzeitiger Stress als langanhaltende Belastung
    Während kurzzeitiger oder an die persönliche Widerstandskraft, die Resilienz, eines Individuums angepasster Stress den Betroffenen nützt und ihn aufgrund des vom Körper ausgeschütteten Hormoncocktails glücklich machen kann, sieht es bei langanhaltender Belastung oder zu intensivem Druck ganz anders aus: Sie untergraben wirklich die Gesundheit. Dabei spiele eine wichtige Rolle, ob sich der Gestresste als hilflos ausgeliefert empfinde und nicht kontrollieren könne, was passiert, schreibt der Autor.
    Er verweist auf eine Untersuchung der DAK, nach der trotz großen Drucks und Verantwortung nicht vor allem Manager an stressbedingten Erkrankungen litten, sondern Arbeitslose und unterforderte Mitarbeiter. Sie würden regelrecht zermürbt. Dann ruiniere der Stress das Immunsystem und die kognitive Leistungen der Dauergestressten nähmen ab, schreibt Willmann.
    Stress ist also janushäuptig, kann uns ebenso helfen wie schaden. Das führt Autor Urs Willmann dem Leser mit erzählerischem Geschick vor Augen. "Stress - ein Lebensmittel" ist aufklärendes Sachbuch und Ratgeber in einem. Allerdings legen die Wiederholungen mancher Argumente nahe, dass es durchaus auch kürzer hätte ausfallen können. Alles in allem jedoch lesenswert.
    Buchinfos:
    Urs Willmann: "Stress - Ein Lebensmittel"
    Pattloch-Verlag, 303 Seiten, 19,99 Euro,
    ISBN: 978-3-629-13071-6