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Strukturwandel in Nordfrankreich
Vorbild Ruhrgebiet

Die Unesco zeichnete 2012 große Teile des nordfranzösischen Kohlereviers als Weltkulturerbe aus. So sollen Touristen und Investoren angelockt und der Stolz auf die Industriekultur in der strukturschwachen Region geweckt werden. Auch zum deutschen Ruhrgebiet besteht enger Kontakt.

Von Bettina Kaps | 12.03.2020
Sonnenaufgang über dem Nordfranzösischen Kohlerevier, im Vordergrund ein altes Fördergerüst
Sonnenaufgang über dem nordfranzösischen Kohlerevier (AFP/ Philippe Huguen)
Die hellroten Backsteinhäuser der Arbeitersiedlung Cité Lemay sind wie auf einem Schachbrett aufgestellt. 53 große Mehrfamilienhäuser, alle gleich. Und doch sei jede Fassade einzigartig, sagt Raphael Alessandri. Der Architekt zeigt auf geometrische Muster aus weißen Steinen an einer Hauswand. Sie sind wie Intarsien eingelegt.
"Die Bauherren haben sich angestrengt. Die Kohlegesellschaften wollten ihre Arbeiter an sich binden und sich auch beim Siedlungsbau von ihren Konkurrenten unterscheiden."
Erhalt und Entwicklung der Bauwerke im Welterbe-Revier
Die Cité Lemay im Bergbaustädtchen Pecquencourt wurde 1923 erbaut. Ein Gelände mit Grundschule, Sport- und Spielplatz verbindet das Viertel mit der Cité Sainte Marie. Dort sind die Arbeiterhäuser kleiner, die Straßen kurvig. Auch dieses Viertel wirkt harmonisch, ohne eintönig zu sein. Noch vor zehn Jahren aber hielt die Wohnungsbaugesellschaft beide Siedlungen für überflüssig, sagt der Architekt:
"Das sollte alles abgerissen werden: 359 Wohnungen. Zum Glück haben das Rathaus und einige Bewohner einen Aufstand gemacht. Dadurch sind wir von der 'Mission Bassin Minier' hellhörig geworden und haben Pecquencourt geholfen, ein Gegenprojekt zu entwickeln."
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe Adieu Tristesse - Frankreichs Norden versucht den Aufbruch.
Alle Wohnungen sind jetzt saniert und haben moderne Badezimmer. Der Verein "Mission Bassin Minier" sorgt für Erhalt und Entwicklung aller Orte und Bauwerke im Kohlerevier, denen die Unesco ihr Welterbe-Label verliehen hat.
Wartelisten für sanierte Bergarbeiterwohnungen
Dass die Arbeitersiedlungen von Pecquencourt dazu gehören, ist auch Joel Pierrache zu verdanken. Der Bürgermeister des 6.000-Einwohner-Städtchens hat stets an den Wert der Siedlungen geglaubt. Auch, als die Sozialbauten noch völlig heruntergekommen waren:
"Durch die Wohnungen pfiff der Wind. Es war kalt und das Heizen teuer. Viele Bewohner fanden es schrecklich, in einer Bergarbeitersiedlung zu leben. Jetzt haben wir Wartelisten. Und Pecquencourt zieht sogar Menschen von auswärts an. Leute, die besser ausgebildet sind und mehr Kompetenzen haben als viele Einheimische."
Trotzdem bleibt viel zu tun. Die beiden Minenschächte von Pecquencourt sind schon seit 35 Jahren geschlossen, aber die Arbeitslosenrate ist immer noch viel zu hoch. Derzeit liegt sie bei 20 Prozent. Der Kohleabbau sei hier durch nichts ersetzt worden, klagt Bürgermeister Pierrache.
Austausch mit der Zeche Zollverein
Eine halbe Autobahnstunde von Pecquencourt entfernt liegt das Städtchen Oignies, wo die "Mission Bassin Minier" ihren Sitz hat. Catherine Bertram, Leiterin des Vereins, blickt von ihrem Schreibtisch auf zwei Bergwerksgebäude mit alten Fördergerüsten. Sie plädiert für Geduld:
"Es kann 30 oder 40 Jahre lang dauern, bis der Strukturwandel gelingt. Die Unesco-Mission ist ein kleines Glied in dieser Geschichte. Unser Ziel ist, dass die Menschen die Brille wechseln. Einwohner, Touristen und Investoren sollen einen neuen Blick auf diese Gegend werfen."
Keine rein französische Problematik. Catherine Bertram geht regelmäßig als Sachverständige auf Reisen. Zuletzt hat sie Fachleuten in China und in Marokko erläutert, wie sich das nordfranzösische Kohlerevier neu erfindet. Auch mit dem Ruhrgebiet pflegt sie engen Austausch. Dort wurde die Zeche Zollverein von der Unesco ausgezeichnet.
"Zollverein, dieses wunderbare Monster, ist ein Denkmal. Wir hingegen sind eine Kulturlandschaft in Entwicklung. Im Ruhrgebiet gab es viele unterschiedliche Industrien. Bei uns wurde die Kohle nur zu Koks verarbeitet. Die Spuren dieser Mono-Industrie lassen sich über drei Jahrhunderte hinweg ablesen, von 1720 bis 1990. Man sieht, wie der Bergbau der ursprünglichen Agrarlandschaft seinen Stempel aufgedrückt hat."
Catherine Bertram vom Verein  "Mission Bassin Minier" vor ehemaligen Bergwerksgebäuden in Oignies 
Catherine Bertram vom Verein "Mission Bassin Minier" ist für Erhalt und Entwicklung der Sehenswürdigkeiten im nordfranzösischen Kohlerevier verantwortlich (Deutschlandradio/ Bettina Kaps)
"Als Touristenziel erst am Anfang"
Das Welterbe-Gebiet im Norden Frankreichs ist entsprechend groß. Bertram zeigt eine Landkarte: Darauf ist ein schmales Band markiert. Es zieht sich 120 Kilometer weit von West nach Ost und ist mit 353 farbigen Punkten gesprenkelt. Jeder einzelne steht für eine Sehenswürdigkeit: Zechen, Fördertürme, Halden, Kirchen, Kanalsysteme, Museen und vieles mehr. Bertram räumt ein: Für Fremde sei es nicht einfach, sich einen Überblick zu verschaffen.
"Unser Kulturerbe ist diffus. In manchen Städten konzentrieren sich viele Sehenswürdigkeiten, anderswo sind sie weit verstreut. Umso wichtiger sind gute Reiseführer und die Fremdenverkehrsämter. Wir haben noch viel zu tun. Als Touristenziel stehen wir erst am Anfang."
Erlebte Geschichte im Bergbaurevier
Zurück nach Pecquencourt. Mitten in der Arbeitersiedlung hat kürzlich ein Fremdenverkehrsamt eröffnet. An diesem Wintertag sind keine Touristen da. Dafür Kinder aus der Nachbarschaft. Sie spielen Tischfußball, Karten, oder sind in ihre Handys vertieft. Karen Saint-Patrice hat ihre Behörde bewusst atypisch gestaltet:
"Als mir dieser Standort angeboten wurde, habe ich gedacht: Klasse, er gehört zum Weltkulturerbe. Aber er liegt in einer reinen Wohngegend. Das verspricht keine großen Besucherströme. Deshalb biete ich auch Dienstleistungen an. Im Frühling wird hier ein kleines Restaurant eröffnet, außerdem haben wir Seminarräume und den Freizeitbereich."
Karen Saint-Patrice stammt aus der Alpenstadt Annecy. Die junge Frau hat sich gezielt für die kleine Stadt im ehemaligen Kohlerevier beworben: "Wenn ich eine Abraumhalde besteige, sage ich mir: Wahnsinn, wie die Leute hier geschuftet haben. Dabei haben sie starke Werte entwickelt. Die Menschen hier sind authentisch, sie feiern gerne, und mögen es, wenn es anderen gut geht. Unsere Besucher spüren, dass man ihnen hier erlebte Geschichte erzählt."