Dienstag, 23. April 2024

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Studentische Protestkultur
"Die ganzen Rahmenbedingungen haben sich verändert"

Ein Sit-in, ein unmittelbarer Protest von Studierenden, wie er erstmals in Berlin vor 50 Jahren stattfand, wirke heute aus der Zeit gefallen und überholt, sagte der Hamburger Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar im DLF. Politisches Engagement wirke auf Studenten heute fast wie ein Fremdkörper. Das liege aber auch daran, dass das Studium sehr viel leistungsorientierter geworden sei.

Wolfgang Kraushaar im Gespräch mit Sandra Pfister | 22.06.2016
    Der Politologe und Sozialforscher Wolfgang Kraushaar, aufgenommen am 26.08.2013 in seinem Büro in Hamburg.
    Der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar. (Sven Hoppe /dpa)
    Sandra Pfister: Wie hat sich die Protestkultur verändert seit diesem ersten Sit-in in Berlin? Darüber habe ich vor der Sendung "Campus & Karriere" geredet mit Wolfgang Kraushaar, Politikwissenschaftler aus Hamburg. Er gilt nämlich als der wissenschaftliche Interpret der 68er-Bewegung. Ich habe ihn gefragt, ob unser Gefühl, dass damals wirklich so viele Studierende politisiert waren, ob das tatsächlich der Realität entspricht.
    Wolfgang Kraushaar: Das kann man so und so sehen. Ich würde gerne darauf hinweisen wollen, dass dieser Eindruck auch täuscht. Der Gesamteindruck, dass wir es mit einer Mehrheit der Studierenden jemals in dieser Zeitphase zu tun gehabt hätten, der ist falsch. Es sind immer eigentlich nur Minderheiten gewesen, die so stark aufgetrumpft haben, ihre politischen Interessen in den Vordergrund gestellt haben, obgleich ich selbst kurz erwähnen darf vielleicht, dass es eine studentische Vollversammlung damals an der Universität Frankfurt gegeben hat mit über 7.000 Teilnehmern bei einer Studentenschaft, die sich auf etwas über 20.000 bemaß. Das heißt, man hatte damals mit einem Drittel von aktivierten, von mobilisierten Studierenden es manchmal zu tun.
    "Die ganzen Rahmenbedingungen haben sich maßgeblich verändert"
    Sandra Pfister: Also das ist ja schon ein krasser Gegensatz zu heute, wo man das Gefühl hat, dass viele Studierende zwar vielleicht nicht aufgehört haben, politisch zu sein, aber sich doch zumindest an ihrer Uni zu engagieren oder täuscht dieser Eindruck?
    Kraushaar: Die ganzen Rahmenbedingungen haben sich ja maßgeblich verändert. Erstens hat sich für die gesamte Gesellschaft so etwas wie eine neoliberale Ökonomie durchgesetzt, die dann im Gefolge auch eine Art von Strukturwandel an den Universitäten herbeigeführt haben. Das Studium ist sehr viel leistungsorientierter geworden, als das damals der Fall war. Das hat mit dazu beigetragen, dass auch das politische Engagement fast schon wie ein Fremdkörper heutzutage wirkt, weil unter dem Vorzeichen der Individualisierung die meisten gar kein Interesse mehr haben daran, an den Hochschulen und Universitäten irgendwas Kollektives zu unternehmen, sondern sie sind ganz strikt orientiert an einem beschleunigten Durchlauf durch ihr Studium.
    Pfister: Wenn man sich dann die Studentenverbände anschaut, die Verbände damals, das waren der sozialistische Studentenbund, sozialdemokratischer Hochschulbund, natürlich gab es auch andere, man hat das Gefühl, die studentischen Proteste waren links. Sind sie zwangsläufig immer links?
    Kraushaar: Nein, das sind sie keineswegs. Es ist sogar so gewesen, dass man zu Beginn der 60er-Jahre sehr erstaunt darüber war, dass sich so viele linke Studentengruppen herauskristallisiert haben, weil in den ganzen Jahrzehnten zuvor Studenten eher als konservativ, manchmal sogar als rechts galten, und das drückte sich vor allen Dingen auch in den Burschenschaften aus, die ja eine große Rolle spielten, vor allen Dingen von der Weimarer Republik, und sie waren auch mit Steigbügelhalter des Nationalsozialismus. Man darf das nicht unterschätzen, wie sehr die damaligen akademischen Eliten am Aufstieg des Nationalsozialismus beteiligt waren. Das hat dann zu einem Bruch erst relativ verspätet und zeitversetzt in den 60er-Jahren geführt, und seitdem gibt es sozusagen eine gewisse Dominanz unter studentischen Gruppierungen seitens einer linken Einstellung. Dennoch aber sollte man auch das nicht verallgemeinern. Es gab auch damals eine Studentenorganisation der NPD beispielsweise. Auch das muss man in Betracht ziehen.
    Pfister: Apropos Studentenorganisationen der NPD: Wenn wir uns die heutigen Proteste angucken, was wir so gerne mit den Stichworten Wutbürger belegen oder Pegida – welche Rolle spielen denn darin junge Akademiker, das studentische Milieu?
    "Sie wirken irgendwie aus der Zeit gefallen"
    Kraushaar: Ich glaube insgesamt eine sehr viel geringere als früher – als früher, damit meine ich die 60er-, 70er-, 80er-Jahre vor allen Dingen. Wenn man zum Beispiel an die Proteste gegen Stuttgart 21, also den Bahnhofsneubau denkt – dort waren es eindeutig Ältere, die die Mehrzahl der Aktivierten bildeten. Man hat sie als Wutbürger qualifiziert oder man kann auch sagen disqualifiziert oder in Zweifel zu ziehen versucht. Die 18- bis 25-Jährigen, also das klassische Gros von mobilisierungsfähigen Demonstranten, hat dagegen nur eine ganz kleine Minderheit gespielt.
    Pfister: Anders sieht es vielleicht ein bisschen bei Attac aus oder bei Campact, also kommen die eher aus dem studentischen Milieu?
    Kraushaar: Auf jeden Fall sind sie mit studentischen Milieus sehr stark verbunden. Attac ist ja eine vergleichsweise intellektuelle Angelegenheit, immer gewesen. Das gleiche gilt, wenn auch nicht im selben Maße, auch für Campact. Dort ist auch ein studentisches Milieu vertreten, aber in einer anderen Weise, denn das ist ja eine Internetplattform, und insofern gibt es da natürlich sehr viel eher die Möglichkeit, sich auf den Clicktivismus zurückzuziehen, wie man das mal in den USA ironisch bezeichnet hat, nämlich nur am Computer zu sitzen und Online-Petitionen sozusagen abzuklicken. Man hat das insofern etwas bequemer. Das spielt da eine gewisse Rolle, dass unter den Ausgangsbedingungen des digitalen Zeitalters es nicht mehr unbedingt nötig ist, selber auf die Straße zu gehen, sondern man hat ein relativ gutes Gefühl, dass man im Internet sehen kann, auf welcher guten Seite man sich gerade befindet.
    Pfister: Es wirkt so, als wäre sowas wie ein Sit-in, was ja unser Ausgangspunkt war, vor 50 Jahren Sit-in an der FU Berlin, was sich die Studierenden damals in Berkeley abgeschaut hatten, als würde sowas heute nicht mehr möglich sein. Würde irgendjemand heute noch so protestieren?
    Kraushaar: Also möglich ist das auf jeden Fall, aber sie wirken irgendwie aus der Zeit gefallen. Ich glaube aber, dass sie reaktivierbar wären. Vielleich würde man sie nicht als Sit-ins mehr bezeichnen. Die Bewegungsform Sitzstreik gibt es ja nach wie vor. Also es gibt alle möglichen Sitzblockaden, die bezeichnet man nicht mehr als Sit-ins. Ich glaube, es ist eigentlich nie ganz überholt gewesen, wenngleich es in universitären Zusammenhängen, wo es ja ohnehin kaum noch unmittelbare Protestformen gibt, eher als überholt gilt.
    Pfister: Danke, Wolfgang Kraushaar, Sie haben sich Zeit Ihres Lebens mit Protestkultur befasst und uns heute erzählt, wie sie sich verändert hat seit 66, seit dem Sit-in an der Freien Universität Berlin. Danke!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.