Donnerstag, 25. April 2024

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Studie zu Kindesmissbrauch
"Die Kirche muss endlich ran an das Thema Zölibat"

Eine Studie zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche hat Tausende Fälle von Übergriffen dokumentiert. Hauptsächlich werden Priester beschuldigt. Heiner Keupp, Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, hält den Zölibat für einen Teil des Problems.

Heiner Keupp im Gespräch mit Sandra Schulz | 25.09.2018
    Ein Priester segnet die Kommunion in Bayern
    Wenn Jugendliche in der Kirche mit Priestern zu tun haben, die ihr eigenes Sexualitätsthema nicht bearbeitet haben, kann es ganz schnell zu Übergriffen kommen, sagt der Sozialpsychologe Heiner Keupp (picture alliance/imageBROKER)
    Sandra Schulz: Mehr als 1.600 Täter, mehr als 3.600 Fälle sexuellen Missbrauchs, begangen von katholischen Klerikern in Deutschland zwischen 1946 und 2014: Diese Zahlen wurden schon Mitte September bekannt, früher als von der Deutschen Bischofskonferenz geplant. Offiziell vorgestellt wird die Studie zu sexuellem Missbrauch in der Katholischen Kirche erst heute. In Fulda sind gestern die deutschen Bischöfe zu ihrer Herbstvollversammlung zusammengekommen.
    Der Sozialpsychologe Professor Heiner Keupp ist Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Das ist wiederum ein Gremium, das seit Anfang 2016 arbeitet und beim Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung Rörig angesiedelt ist. Schönen guten Morgen, Herr Keupp!
    Heiner Keupp: Guten Morgen.
    Schulz: Bei der Studie, die nun heute wie gesagt offiziell vorgestellt wird, würden Sie da überhaupt sagen, dass dazu die Überschrift "Aufklärung" passt?
    Keupp: Nein. Es ist eine Dokumentation unter eingeschränkten Voraussetzungen. Das ist gerade ja auch noch mal von der Kollegin deutlich angesprochen worden. Es ist eine Dokumentation von Fällen, die uns alle, die wir mit dem Thema seit langem beschäftigt sind, nur eingeschränkt überrascht. Die Zahlen sind schrecklich, aber wir haben eigentlich, ich habe nichts anderes erwartet.
    Es kommt natürlich dazu: Ich bin auch wissenschaftlicher Beirat in dieser Studie gewesen. Ich habe immer wieder Gelegenheit gehabt, auch schon Zwischenetappen in der Bewertung und Auswertung mitzubekommen. Und auch die Kollegen werden ganz sicher sagen, wir haben keine Aufarbeitung betrieben, sondern wir haben Daten geliefert – das war der Auftrag – unter auch eingeschränkten Bedingungen. Der Auftrag hat von vornherein längst nicht alle Möglichkeiten geöffnet.
    Die Mitglieder der
    Die Mitglieder der "Aufarbeitungskommission Kindesmissbrauch", v.l.n.r.: Dr. Christine Bergmann, Prof. Dr. Jens Brachmann, Brigitte Tilmann, Prof. Dr. Sabine Andresen (Vorsitzende), Prof. Dr. Peer Briken, Prof. Dr. Barbara Kavemann, Prof. Dr. Heiner Keupp (Foto: Christine Fenzl)
    "Die Kirche muss ihre Struktur überprüfen"
    Schulz: Was müsste passieren für eine echte Aufklärung?
    Keupp: Eine echte Aufklärung – es gibt da sicher drei Ebenen. Die eine Ebene ist die Menschen, die betroffen sind oder die auch Täter geworden sind, dass die eine Gelegenheit haben, über das, was da gelaufen ist, mit ihrem Leben erhebliche Veränderungen bewirkt hat, zum Teil kaputte Lebensbiographien erzeugt hat, die erwarten natürlich, dass wirklich ihre Geschichte ernst genommen wird, dass sie akzeptiert wird, dass ihnen geglaubt wird. All das haben sie nämlich gar nicht erlebt über Jahre hinweg.
    Das zweite ist die Ebene, die dann die Kirche selber betrifft. Sie muss einfach ihre Strukturen überprüfen. Da liefert die Kommission und natürlich jetzt auch dieser Bericht immer wieder viele Vorlagen, die man nutzen könnte. Und wenn ich das jetzt höre, was Ihre Kollegin gerade erzählt hat, diese oft so windelweichen Formulierungen, die ein Theologe in diesem Amt jeden Tag ganz leicht aussprechen kann, dann wird nicht über konkrete Maßnahmen gesprochen. Dieser Schritt wird ab heute Mittag nicht mehr möglich sein.
    Schulz: Wie kommen Sie darauf, dass das nicht mehr möglich sein wird? Wer oder was sollte dafür sorgen, dass es nicht mehr möglich ist?
    Keupp: Wir haben doch jetzt in den letzten Tagen, weil die Studie ja schon etwas vorzeitig durchgestochen worden ist, eine ganz lebendige Debatte in den Medien vor allem und natürlich auch von den Betroffenen. Und die Betroffenen, das sollte man vielleicht mal ganz klar sagen: Nicht die Kirche hat hier eine Initiative zu einer Studie ergriffen, sondern sie ist eigentlich vor sich hergetrieben worden durch vor allem viele aktive und mutige Betroffene, die einfach dieses Thema am Leben erhalten haben.
    Ich habe selber die Studie zum Kloster Ettal, die damals eine der wichtigen war, 2013 geleitet, und diese Studie, wie viele andere auch, Odenwaldschule (das ist jetzt nicht Kirche, aber es sind ähnliche Einrichtungen), immer sind es die Betroffenen, die die Verantwortlichen zwingen, endlich Verantwortung zu übernehmen.
    "Die Akten müssen öffentlich werden"
    Schulz: Aber dass die Kirche jetzt zumindest, indem sie diese Studie in Auftrag gegeben hat, sich ihrerseits auch bewegt hat, kann man das als positives Signal sehen?
    Keupp: Wenn es ein erster Schritt ist, dem weitere folgen, dann würde ich gerne sagen, ja. Ich finde es auch gut, was meine Kollegen da an Arbeit geleistet haben. Das ist wirklich eine sehr differenzierte, seriöse Arbeit. Die haben nicht spekuliert, die haben einfach versucht, so sichere Fakten herauszuarbeiten wie irgend möglich. Aber jetzt folgen natürlich ganz wichtige nächste Schritte. Die Archive, die Akten müssen einfach auch öffentlich werden. Wir brauchen unabhängige Beauftragte, die dann auch von außerhalb der Kirche wirklich diese Arbeit erledigen können, wie sie in Pennsylvania gemacht wurde, wo ein unabhängiger Oberstaatsanwalt an alle Akten herankam.
    Schulz: Das ist auch die Forderung, dass sich der Staat da stärker einmischen muss. Wo sehen Sie da konkret die Pflicht?
    Keupp: Das wäre meine dritte Ebene. Die Kirche war die zweite. Die dritte ist die Gesellschaft. Wir haben ein Konkordat. Da hat der Staat an die Kirche bestimmte Rechte abgetreten. Wir zahlen als Gesellschaft der Kirche eine ganze Menge Geld im Prinzip des Subsidiaritätsprinzips, dass Einrichtungen für Kinder, für Jugendliche von den Kirchen übernommen werden, Heime geführt werden. Und wenn dieser Auftrag so miserabel ausgeführt wurde über viele, viele Jahre, dann hat jetzt auch die Gesellschaft, der Staat die Aufgabe zu sagen, wir müssen hierüber reden, was da schiefgelaufen ist. Warum habt ihr nicht die Verantwortung übernommen? Und ich fordere eigentlich – damit stehe ich nicht alleine -, dass jetzt so etwas wie ein klarer Pakt zwischen Staat, Gesellschaft und Kirche ausgehandelt wird, aus dem herauskommen muss, wir müssen nächste Schritte gehen, um wirklich eine konsequente Aufarbeitung möglich zu machen.
    "Gestörtes Verhältnis zum Thema Sexualität"
    Schulz: Archiveinsicht habe ich verstanden als Forderung. Auch die Benennung von Verantwortlichkeiten?
    Keupp: Ja, natürlich. Es werden immer wieder Namen kolportiert. Vielleicht darf ich noch einen Punkt gerade vorher einflechten: Da wo wir angefangen haben zu forschen, das waren Klöster. Der Auftrag der Bischofskonferenz hat diese Klöster, die Orden überhaupt nicht einbezogen. Deswegen sind auch die ganzen weiblichen Täter, die es ja auch gab, in den Kinderheimen zum Beispiel, es sind überhaupt keine Frauen einbezogen. Wir wissen aber, dass Frauen auch einen erheblichen Anteil an Missbrauchstaten haben. Da sind einfach Schritte noch notwendig, die jetzt durch diese Studie gar nicht geleistet werden konnten.
    Schulz: Wobei jetzt im Fokus ja auch die Taten sind, vor allem begangen von Männern, und Sie haben Diskussionen schon eingefordert. Dreht es sich da auch um den Zölibat und die Haltung generell in der Katholischen Kirche, um Sexualität?
    Keupp: Das ist ein ganz wichtiges Thema. Die Kirche hat über Jahre ein bisschen ihre Haltung gelockert, aber noch immer gilt das, was ein Kollege aus Italien in einem Buchtitel ausgedrückt hat, ein Theologe: "Die Kirche und der vergiftete Eros". Die hat ein gestörtes, schwieriges Verhältnis zum Thema Sexualität. Die jungen Pfarrer, die auf dem Weg sind, die Mönche, werden überhaupt nicht wirklich in einem Reflektionsprozess mit dem konfrontiert, was sie sich selber antun müssen, wenn sie für das Zölibat sich entscheiden. Die haben aber dann wiederum Umgang mit Kindern und Jugendlichen, die selber natürlich auch sexuelle Wesen sind, die auf dem Weg sind, gerade Jugendliche selber, ihre Sexualität zu entdecken. Und wenn sie dann mit Priestern, mit Prälaten und so weiter zu tun haben, die selber ihr eigenes Sexualitätsthema nicht bearbeitet haben, dann kann es ganz schnell zu Übergriffen kommen. Das Thema steht an, das muss dringend bearbeitet werden. Auch das Thema Zölibat. Das wird zwar von vielen bestritten, dass das ein besonderer Faktor wäre, denn es gäbe ja auch genug Missbrauch außerhalb des Zölibats. Aber ein Faktor in diesem ganzen Spektrum ist es auf jeden Fall und da muss die Kirche wirklich endlich mal ran.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.