Freitag, 29. März 2024

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Studie zu Musikvideos
Wie sich klassische Musiker auf YouTube inszenieren

Auf YouTube haben klassische Musikerinnen und Musiker eigene Video-Formate entwickelt – ob Kurzfilm oder Probendokumentation. Wie darin Authenzität inszeniert wird und was sich aus den Kommentaren des YouTube-Publikums schließen lässt, erforscht ein Projekt der Universität Koblenz-Landau.

Von Dagmar Penzlin | 29.03.2021
Die Sängerin Anna Prohaska auf der Bühne der Staatsooper Berlin in einer Szene der Oper "Violetter Schnee" von Beat Furrer.
Auch die Sängerin Anna Prohaska - hier auf der Bühne der Staatsoper Berlin - ist auf YouTube in Videos zu sehen. (picture alliance / Eventpress Hoensch)
Ein ICE rauscht in den Bahnhof, Musik von Antonio Vivaldi setzt ein. Eine Frau in schwarz-roter Abendrobe und mit zerzausten Haaren blickt sich verzweifelt um.
Anna Prohaska agiert als Sängerin im Video zur Arie "Alma Oppressa" – "Unterdrückte Seele" aus dem Jahr 2013. Es ist ein typischer Kurzfilm, wie ihn die Plattform YouTube hervorgebracht und geprägt hat. Sogar mit Szenenwechsel im Mittelteil der Arie – da läuft die Sopranistin über einen Grünstreifen im Stadtverkehr.

Großer Aufwand für die Filmaufnahmen

Für Corinna Herr, Musikwissenschaftsprofessorin an der Universität Koblenz-Landau, ist dieser knapp dreiminütige Clip ein gutes Beispiel für die Gattung der narrativen Klassik-Videos. In starken Bildern erzählen diese Filme eine Geschichte - das Visuelle bekommt ähnlich starkes Gewicht wie das, was zu hören ist.
"Da ist natürlich ein großer Aufwand getrieben worden. Die haben sich in den Berliner Bahnhof gestellt und haben da gedreht. Und haben auch hier, wenn man von Narrativ spricht, die Blicke der Zuschauerinnen und Zuschauer, die dann zwischendurch eingeblendet werden, diese staunenden, ungläubigen Blicke, dass da eine Frau in einem Abendkleid auf so einem verzierten Stuhl mitten im Bahnhof sitzt und eine Arie singt: Das ist natürlich etwas, was sehr stark dieses Narrativ prägt. Und dann die Zuhörerinnen und Zuhörer, die Zuschauerinnen und Zuschauer fast schon in Stellvertretung damit in dieses Bild hineinbringt. Also die Frage der Immersion ist hier auch wichtig."
Immersion meint im virtuellen Zusammenhang das Eintauchen in die Film-Wirklichkeit. Corinna Herr interessiert das als Leiterin des DFG-Projekts "Darstellung und Rezeption klassischer Musiker und Musikerinnen bei YouTube: Aufführungs- und Lebenspraxen im digitalen Zeitalter".

Wie im Musik-Video Authentizität konstruiert wird

Seit 2019 läuft das Projekt, unterbrochen von einer kurzen Pause im vergangenen Jahr. Bis 2023 soll so unter anderem auch exemplarisch ein statistischer Überblick ausgewählter Klassik-Videos entstehen, die die Labels Deutsche Grammophon und Warner Classics auf ihren eigenen YouTube-Kanälen veröffentlicht haben.
"Wir haben die neue Musik rausgenommen – das ist ein ganz anderes Thema. Wir haben also Musik seit der frühen Neuzeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ungefähr als Voraussetzung genommen. Und da haben wir alle Videos untersucht von 2008 beziehungsweise 2009 bis zum 31.12.2019."
Diese Videos sortieren Corinna Herr und ihre Mitarbeiterinnen nach bestimmten Kategorien. Neben narrativen Videos wie das beschriebene der Sopranistin Anna Prohaska stehen Videos, die Proben zu CD-Aufnahmen dokumentieren. Ein charakteristisches Beispiel ist ein Clip des Cembalisten Jean Rondeau.
Drei Menschen tragen ein Cembalo in einen Raum. Wir sehen vor allem ihre Hände, Beine und Füße, dann das Aufklappen des Instrumentendeckels, das Stimmen des Cembalos und andere Vorbereitungen. Schließlich nähert sich die Kamera von hinten durch eine Tür dem Cembalisten Jean Rondeau, umkreist ihn, zoomt auf Hände und Gesicht.
"Es ist so geschnitten, dass wir das Gefühl haben, wir werden in diese Welt einer authentischen Probe reingeführt. Also Authentizität ist tatsächlich eine sehr wichtige Kategorie für die Rezeption klassischer Musik. Das ist einfach für die Rezipienten wichtig. Insofern fragen wir nicht, was ist authentisch. Aber wir fragen natürlich, wie kann Authentizität konstruiert werden. Das ist eine ganz problematische Kategorie. Zum Beispiel beim Prohaska-Video - da habe ich häufig die Rückmeldung bekommen: ‚Wie? Die singt ja gar nicht live?!’ Das war kritisch gemeint. ‚Natürlich singt die nicht live. Wie soll die denn live singen? Das ist ein Video – die läuft über eine Wiese.’ Das war dann ein verdammendes Urteil."
Handy mit Youtube-Logo vor einer Leinwand, die ebenfalls das Youtube-Logo zeigt
Youtube - Ging es auch mal ohne?
Im Februar 2005 startete YouTube. Die Plattform revolutionierte den Musikkonsum, ermöglichte den Beruf des Influencers und ist längst Teil der Alltagskultur. Verändert hat sie aber auch die politische Meinungsbildung.

Macht und Humor in YouTube-Kommentaren

Diese digitalen Aufführungspraxen von Solistinnen und Solisten der klassischen Musik bilden einen Schwerpunkt im DFG-Projekt von Corinna Herr. Die Koblenzer Musikwissenschaftsprofessorin interessiert sich darüber hinaus für die Interaktionen des YouTube-Publikums. Genau untersucht hat die Musiksoziologin die Kommentare zur Arie der Königin der Nacht, "Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen", und zwar gesungen von Diana Damrau, in vier verschiedenen Aufnahmen.
"Und diese vier Aufnahmen sind zu der Zeit, als ich es untersucht habe – ist auch jetzt zwei Jahre her, 32 Mal auf verschiedenen YouTube-Kanälen ins Internet gestellt worden. Die hatten insgesamt 38 Millionen Aufrufe – da sage mal einer, die klassische Musik sei tot. Und die hatten insgesamt 16.000 Kommentare, die ich untersucht habe."
Diese Kommentare sind das, was die Geschichtsforschung Ego-Dokumente nennt: eine Quelle also, die viel über die Selbstwahrnehmung der kommentierenden Person erzählt. Corinna Herr erforscht anhand dieser Texte, etwa welche Rolle Humor spielt, welche interkulturellen Aspekte hineinspielen und wie sich innerhalb der kommentierenden Gruppe Interaktion gestaltet etwa indem sich Hierarchien ausbilden.
"Dadurch dass unterschiedliches Wissen vorherrscht, zeigen sich unterschiedliche Machtverhältnisse auch hier. Aber das Spannende ist natürlich, dass niemand erstmal Macht über den anderen hat. Niemand darf da ex cathedra reden, ob der mehr weiß oder nicht. Dann kommt auf einmal jemand, der kommt und sagt: ‚Also ich finde diese Arie ganz furchtbar! Was erzählst Du mir da für einen Quatsch?’"
Beim Auswerten der Interaktionen interessiert Corinna Herr auch, inwiefern YouTube klassischer Musik zu mehr Resonanz verhilft.
Kurz: YouTube liegt in diesem DFG-Projekt sowohl als Social-Media-Plattform unterm Mikroskop als auch als Plattform für die Aufführung klassischer Musik. Was sich aktuell durch die Corona-Pandemie in der Klassik-Szene jetzt digital entwickelt, das sei hier schon angelegt, so Corinna Herr:
"Die Pandemie hat das Ganze noch mal beschleunigt, diesen Vorgang, sie hat ihn nicht hervorgerufen."