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Studie zu Paralleljustiz
Keine Belege für "Scharia-Gerichte"

Immer wieder ist von gesellschaftlichen Parallel-Strukturen unter Zuwanderern die Rede, in denen sogenannte Friedensrichter sich über deutsche Gesetze hinwegsetzen und ohne entsprechende Legitimation Streitfälle entscheiden. Aber wie stark ist ihr Einfluss wirklich? Der Berliner Senat wollte es genauer wissen und gab eine Studie in Auftrag.

Von Kemal Hür | 09.12.2015
    Ein Gerichtshammer.
    Eine Studie hat jetzt mögliche rechtliche Parallel-Strukturen in Berlin untersucht. (picture alliance / dpa / Andrey Starostin)
    Berlin-Neukölln. Im Norden dieses Bezirks dominiert ein muslimisches Stadtbild. Tagsüber viele Frauen mit Kopftüchern, abends hingegen sieht man hauptsächlich junge muslimische Männer in Gruppen durch die große Karl-Marx-Straße schlendern; die einzigen Frauen, die dann noch anzutreffen sind, sind neu hinzugezogene Studentinnen. In einigen Seitenstraßen dieser Einkaufsmeile leben mehrere libanesische Großfamilien, die ihre Angelegenheiten unter sich regeln. Hier spricht die Polizei von Paralleljustiz. Diese Clans sind dem Neuköllner Integrationsbeauftragten Arnold Mengelkoch seit Jahren bekannt.
    "Da stehen die Männer des Clans um die Familie drum herum mit dem Rücken zur Familie eng eingehakt und verteidigen den Clan nach außen, egal was für ein Angriff kommt. Schon eine Kritik aus der Schule ist ein Angriff, eine Kritik aus der Nachbarschaft ist ein Angriff. Und sie reagieren immer kampfbereit darauf."
    Strukturen dürfen sich nicht verfestigen
    Nader Khalil ist in Neukölln aufgewachsen, hat hier die Schule besucht und war auch einige Jahre Bezirksverordneter. Heute arbeitet er beim Deutsch-Arabischen Zentrum, einer Dachorganisation arabischer Vereine. Er mahnt die Behörden zur Wachsamkeit. "Viele dieser Leute – und das ist das, was ich in Kiezen wie in Neukölln sehe -, dass sich schon viele auf diese Strukturen verlassen, aber nicht auf unsere gesetzlichen Strukturen. Und da muss Deutschland schon aufwachen. Es gibt für uns in Deutschland nichts Schlimmeres, als wenn sich diese Strukturen verfestigen."
    Eine Studie, die Berlins Justizsenator Thomas Heilmann von der CDU heute vorstellte, kommt zu unerwarteten Ergebnissen. Anders als in der öffentlichen Wahrnehmung gäbe es in Berlin keine institutionalisierte Paralleljustiz. Und da wo sie existiere, sei sie für keine ethnische oder religiöse Community typisch. Aber von einer Entwarnung will Senator Heilmann nicht sprechen. "Es gibt viele Großfamilien und viele Clans, die ihre Macht dadurch ausüben, dass sie Konflikte um Eheschließungen, aber auch um Straftaten intern klären und damit eine Macht verfestigen, die zulasten von Frauen geht."
    Patriarchalische Großfamilienstrukturen sind der Nährboden
    Mit Paralleljustiz sind nicht Mediation oder Schlichtungsverfahren gemeint, sondern Formen der außergerichtlichen Streitbeilegung, die die deutschen Rechtsstandards missachten oder unterlaufen. Diese gäbe es ansatzweise in islamistisch-salafistischen Milieus. Die Existenz irgendwelcher "Scharia-Gerichte" lasse sich aber nicht belegen. Auch die Bedeutung sogenannter Friedensrichter sei überschätzt. Es gäbe weniger als zehn solcher privaten Rechtssprecher. Die Gründe, warum die als Clans organisierten Großfamilien Paralleljustiz anwenden, seien nicht religiöser Art, sagt der Leiter der Studie, der Islamwissenschaftler Mathias Rohe von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
    "Paralleljustiz hat ihre Hauptgründe in bestimmten kulturellen Prägungen, in bestimmten sozio-kulturellen Milieus, das heißt, das sind Leute, die in sehr segregierten Gemeinschaften leben, weit weg von der Mehrheitsgesellschaft – patriarchalische Großfamilienstrukturen mit ganz starken Bindungen nach innen und wenig Loyalitätsempfinden nach außen. Das ist der Nährboden für Paralleljustiz."
    Ein Bereich, wo Paralleljustiz zur Anwendung komme, seien Zwangsehen. Senator Heilmann setzt auf Aufklärung und Prävention. "Erstmal müssen wir uns im Senat intern aufstellen, weil da viele Senatsverwaltungen zuständig sind. Die Senatsverwaltung für Integration ganz sicher, ganz sicher auch die Verwaltung für Bildung und Jugend, aber auch mein Haus. Das heißt, wir werden uns senatsintern nächstes Jahr aufstellen. Dann werden wir Bündnispartner suchen müssen in der Berliner Gesellschaft, die uns helfen, dieses Vertrauen entstehen zu lassen."
    Partner wie Imame, Migrantenverbände oder die Stadtteilmütter im Bezirk Neukölln sollen Betroffene über den Rechtsstaat informieren.