Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Studieren mit Beeinträchtigung
Neunzig Prozent der Betroffenen kämpfen mit Problemen

Mehr als 300.000 Studierenden in Deutschland erschwert eine Behinderung oder chronische Krankheit das Studium. Die Hochschulen bieten verschiedene Nachteilsausgleiche an - doch viele nehmen diese nicht in Anspruch. Oft ist Angst der Grund, so das Ergebnis einer Studie des Studentenwerks.

Von Anja Nehls | 24.09.2018
    Eine Frau im Rollstuhl sitzt an einem Schreibtisch.
    Rund elf Prozent aller Studierenden in Deutschland haben eine Beeinträchtigung - mal sichtbar, mal nicht (dpa / picture alliuance / Paul Zinken)
    Christian Opitz sitzt in seinem weißen Rollstuhl zuhause am PC und arbeitet an seiner Bachelorarbeit. Es geht um eine Operation der Alliierten im Zweiten Weltkrieg. Christian Opitz studiert Geschichte, Politik und Verwaltung an der Universität Potsdam - seit 2009. Dass er jetzt erst seine Bachelorarbeit schreibt, liegt daran, dass ihn seine Querschnittslähmung, daraus folgende Operationen und deren Folgen immer wieder zurückgeworfen haben. Teilweise über ein Jahr musste er pausieren. Dass er jetzt doch kurz vor dem Ziel steht, verdankt er auch Bemühungen seiner Uni um Inklusion. Er hatte zum Beispiel mehr Zeit für Klausuren:
    "Die Zeitverlängerung benötige ich, da ich Linkshänder bin und mit der linken Hand nicht wirklich durch die Lähmung schreiben kann, zumindest nicht in einer normalen Geschwindigkeit. Und dann läuft das meistens so ab, dass in einem Extraraum geschrieben wird .Weil wenn man diese Zeitverlängerung hat, ist es natürlich so, man schreibt länger und wenn dann in einem Vorlesungssaal mit 300 Leuten diese 300 Leute aufstehen und rausgehen, ist das eine gute Viertelstunde Lautstärke, Chaos und natürlich abträglich der Konzentration für die Arbeit. Und so bekommt man einen Extraraum mit einer Extraaufsicht, wird alles gestellt."
    Psychisch Erkrankte wollen sich nicht outen
    Rund elf Prozent aller Studierenden in Deutschland haben eine Beeinträchtigung. Bei den meisten ist diese, anders als bei Christian Opitz, aber nicht auf Anhieb zu erkennen. Für ihn war es selbstverständlich, die ihm zustehenden Nachteilsausgleiche auch zu nutzen. Laut der Studie "Beeinträchtigt studieren" tun das aber nur ein Drittel aller Betroffenen - obwohl drei Viertel dieses Instrument prinzipiell hilfreich finden. Studierende etwa mit psychischen Erkrankungen wollen sich häufig nicht outen, ein Riesenproblem, meint Rolf Dieter Postlep vom Deutschen Studentenwerk, das die Studie in Auftrag gegeben hat:
    "Also erstens sind offensichtlich die Studierenden, die betroffen sind, selbst gehemmt, das nach außen zu tragen. Zweitens können die, die helfen wollen, da sie es ja schwer erkennen können oder zumindest nicht auf Anhieb erkennen können, auch gar nicht tätig werden, weil sie ja nicht wissen, was eigentlich für ein Problem anliegt."
    Gesundheitliche Rückschläge können zum Beispiel immer mal die Teilnahme an Prüfungen verhindern, meint Christian Opitz. Dabei hätten Betroffene als Nachteilsausgleich durchaus das Recht, Prüfungen kurzfristiger und häufiger abzusagen als nicht beeinträchtigte Studierende. Dieses Recht müssen sie jedoch einfordern: "Das außerfristliche Zurücktreten von Prüfungen ist für viele Beeinträchtigte, ob jetzt mit körperliche oder psychischer Beeinträchtigung, eine relativ gute Möglichkeit, da man von vorherein nicht sagen kann, ist jetzt eine Operation nötig, gibt es einen psychischen Einbruch oder Ähnliches."
    Outing erst kurz vor dem drohenden Studienabbruch
    Jede Uni regelt so etwas allerdings anders. Deshalb sei es weit besser, gleich die Studienbedingungen barrierefreier zu gestalten, sagt Christine Frommer, Projektleiterin der Studie beim Deutschen Studentenwerk. Sie wünscht sich statt individuell verhandelbarer Nachteilsausgleiche an den Hochschulen generell mehr Gestaltungsspielräume und Flexibilität: "Zum Beispiel, dass Anwesenheitspflichten abgebaut werden, wäre eins. Also für chronisch kranke Studierende ist das ein Riesenproblem. Sie müssen immer wieder vorstellig werden und wer jetzt zum Beispiel Dialysepatient ist, der kann sich das ja nicht aussuchen, wann er da hingeht."
    Neun von zehn Studierenden der Studie geben an, dass sie beeinträchtigungsbedingte Schwierigkeiten im Studium haben. Häufig wird das an der Uni erst zur Sprache gebracht, wenn fast schon der Studienabbruch droht, klagt Christine Frommer. Mehr Information sei deshalb nötig: "Dass in den Erstsemesterveranstaltungen überhaupt darauf hingewiesenen wird, dass es Beratungsstellen gibt, an die sich Studierende mit den unterschiedlichen Beeinträchtigungen wenden können, mit chronischen Erkrankungen, mit psychischen Beeinträchtigungen, das ist wichtig."
    Probleme auch beim sozialen Miteinander
    Für fast jeden zweiten Beeinträchtigten ist neben der reinen Organisation auch das soziale Miteinander im Studium ein Problem. Hier könnten Hochschulen und Lehrbeauftragte gegensteuern - etwa durch Vermittlung der Betroffenen in Lerngruppen. Studierendenwerke und Hochschulen sollten auch besser zusammenarbeiten, wenn es um psychosoziale Beratung oder die Vermittlung von Wohnheimplätzen für Beeinträchtigte geht, so das Deutsche Studentenwerk.
    Für Christian Opitz war soziale Integration allerdings nie ein Problem: "Ich habe keine Woche gebraucht und habe hier einen kleinen überschaubaren Freundeskreis aufgebaut gehabt. In den letzten Jahren ist dieser gewaltig angewachsen. Ich bin praktisch mit meinem sozialen Mittelpunkt mit meinem Leben in Potsdam angekommen." Sein persönlicher Kritikpunkt bleibt aber das leidige Kopfsteinpflaster rund um das denkmalgeschützte Universitätsgebäude am Neuen Palais in Potsdam. Darüber will sich Christian Opitz allerdings erst wieder ärgern, wenn er vielleicht den Master in Angriff nimmt.