Dienstag, 16. April 2024

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Studium für Nichtakademiker-Kinder
Bildungssystem muss "Möglichkeiten eröffnen"

Der Bildungsweg dürfe nicht davon abhängen, in welche Umstände Menschen zufälligerweise hineingeboren würden, sagte Konrad Wolf, Wissenschaftsminister des Landes Rheinland-Pfalz im Dlf. Das Bildungssystem müsse auf die Vielfalt der Menschen reagieren und für alle Möglichkeiten eröffnen.

Konrad Wolf im Gespräch mit Thekla Jahn | 02.06.2020
Konrad Wolf (SPD), Wissenschaftsminister von Rheinland-Pfalz, spricht bei bei einem Redaktionsgespräch bei der dpa in Mainz (2019).
Ehrgeiz und Disziplin seien ein Faktor für jede Karriere, so der Wissenschaftsminister des Landes Rheinland-Pfalz Konrad Wolf. Wichtig sei aber auch, welche Möglichkeiten sich im Leben ergeben. (picture alliance / Boris Roessler)
Wie ist Bildungserfolg für Menschen aus Nichtakademikerfamilien möglich - darüber sprach der Deutschlandfunk mit Konrad Wolf, Minister für Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz.
Jahn: Herr Wolf, Ihre Vita ist erstaunlich. Ich darf kurz die wesentlichen Stationen vortragen: Realschulabschluss, Ausbildung im Elektrohandwerk, Fachabitur, Physikstudium, Promotion auf dem Gebiet der Festkörperphysik, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraunhofer Institut für mikroelektronische Schaltungen und Systeme in Dresden, Professur an der Hochschule Kaiserslautern, Präsident eben dieser Hochschule, und jetzt seit 2016 Minister. Herr Wolf, Sie kommen aus einer Bauernfamilie. So ein Durchmarsch ist selbst für Akademikerkinder mit ordentlich Vitamin B nicht an der Tagesordnung. Haben Sie besonderen Ehrgeiz, besonders hohe Disziplin, möglicherweise auch aus dem Gefühl heraus, mehr leisten zu müssen, beweisen zu müssen, dass Sie mit Akademikern mithalten können?
Wolf: Nun, Ehrgeiz und Disziplin sind sicher ein Faktor bei jeder Karriere, auch bei einer akademischen Karriere, aber es ist natürlich auch immer die Frage, welche Möglichkeiten sich ergeben im Leben und vor allem auch, welche Menschen einem begegnen. Ich bin aufgewachsen tatsächlich in einer Bauernfamilie auf einem Dorf in den 1970er-Jahren. Mein Bruder war allerdings, mein älterer Bruder, bereits der erste in unserer Familie, der nach einem Hauptschulabschluss und einer Ausbildung als Verkäufer über den zweiten Bildungsweg, der damals eröffnet wurde, also Berufsaufbauschule, Berufsoberschule, zur Universität Regensburg gekommen ist, dort Betriebswirtschaft studiert hat. Es gab also hier schon ein Vorbild, und es war damals natürlich auch eine Zeit, in der sehr viel gesprochen und diskutiert wurde über Bildung und eine Zeit, in die die erste Öffnung des Bildungssystems und der Hochschulen auch fiel. Das war sicherlich ein ganz entscheidender Faktor und für mich dann auch ein Ansporn und auch ein Weg, der da aufgezeigt wurde.
"Pragmatisches Vorgehen" bei der Wahl des Studiums
Jahn: Sie haben es eben im Beitrag gehört. Wissenschaftler, die aus Nichtakademikerfamilien stammen, bringen andere Perspektiven, andere Herangehensweisen mit. Haben Sie das auch so erlebt, dass Ihr Zugang zu Wissenschaften, Ihr Vorgehen ein anderes ist, möglicherweise pragmatischer als bei anderen?
Wolf: Zunächst einmal prägt unser Denken und unsere Sicht auf die Welt natürlich immer das, was uns begegnet und was wir erlebt haben. In Untersuchungen stellt man ja beispielsweise fest, dass Kinder aus Arbeiterfamilien und Nichtakademikerfamilien generell eine sehr starke Tendenz haben zu Studiengängen, die anwendungsorientiert sind oder wo relativ klar ist, dass eine Karriere sich darstellt. Das kann ich sehr gut nachvollziehen, weil man natürlich aufwächst mit der Fragestellung, wie gestalte ich mein Leben. Das führt zu einer pragmatischen, auch zielorientierten Sichtweise und sogar zu einem zielorientierten Vorgehen. Es verhindert natürlich teilweise auch die völlige Offenheit in der Fragestellung, was könnte ich denn machen, wie könnte ich mich beruflich verwirklichen, weil die Tendenz sehr stark ist, sich zu überlegen, ja, aber wie verdiene ich ganz pragmatisch meinen Lebensunterhalt.
Andreas Schleicher bei einem Vortrag in Mexiko
OECD-Bildungsstudie - "Wer in höhere Bildung investiert, trifft die richtige Wahl"
Beim Ausbau der höheren Bildung sei Deutschland auf einem guten Weg, sagte OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher im Dlf. Es gebe heute mehr Studierende sowie Menschen in höherwertigen beruflichen Ausbildungen als noch vor zehn Jahren. Etwas schlechter sehe es aber bei den MINT-Fächern aus.
Jahn: Wenn wir jetzt noch ein Schrittchen weitergehen, Sie als Wissenschaftler, welche Perspektiven haben Sie mitgebracht in Ihr Arbeiten, von dem Sie das Gefühl hatten, ja, das hätte ich gar nicht so, wenn ich aus einer Akademikerfamilie komme?
"Ich will die Welt, in der ich lebe, mitgestalten"
Wolf: Was für mich relativ schnell klargeworden ist, das war – ich habe ja Physik studiert, in Physik promoviert –, dass ich in Richtung der Anwendungsorientierung gehen will. Der Anspruch oder einfach auch die Idee, die Welt auch zu verstehen, das liegt naturwissenschaftlichen Studiengängen auch zugrunde, ebenso natürlich wie bei anderen Studiengängen auch, aber das ist ja auch eine (unverständlich) in der Physik, die Welt verstehen zu wollen, die uns umgibt. Das war ein wichtiger Aspekt, aber es war dann auch im späteren Verlauf meiner Entwicklung, meiner Karriere, ein sehr, sehr wichtiger Aspekt, zu sagen, ich will auch die Welt, in der ich lebe, mitgestalten, ganz praktisch, ganz pragmatisch, also nicht nur zum Erkenntnisgewinn beitragen, sondern tatsächlich auch dieses Gestaltungselement, das spielt sich nicht auf der Metaebene ab, sondern das Leben spielt sich am Ende dann im Konkreten ab.
Jahn: Also der Schritt hinaus aus dem viel zitierten Elfenbeinturm. Wie lassen sich denn nun, wenn wir auf unsere Bildungslandschaft schauen, Weichen für eine gerechtere Bildungsgesellschaft in Deutschland stellen, also für bessere Bildungschancen?
Wolf: Nun, das Schlagwort, mit dem ich sehr stark arbeite, lautet: Türen öffnen. Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Schritt, dass man, erstens, viele Möglichkeiten hat, sein Leben zu gestalten auf ganz verschiedene Art und Weise. Wir haben ja heute ein sehr vielschichtiges Bildungssystem. Ich glaube, das ist auch wichtig, weil die Bildungsbiografien und die Grundideen, wie man sich entwickelt, sehr unterschiedlich sind. Das heißt, auf die Vielfalt der Welt muss das System auch reagieren, auf die Vielfalt bei den Menschen, und Möglichkeiten eröffnen, und auf der anderen Seite ist aber auch wichtig, dass die Möglichkeiten nicht nur da sind, sondern dass man die Möglichkeiten auch darstellt, und dass es Menschen gibt, die auf die Möglichkeiten hinweisen. Darum gibt es Gott sei Dank auch Initiativen in den Hochschulen, beispielsweise wie arbeiterkind.de, da ist eine sehr bekannte Initiative.
Jahn: Arbeiterkind feiert auch gerade zwölfjähriges Bestehen.
Wolf: Ja, das ist richtig. Wir sind auch in Rheinland-Pfalz vertreten. Wir fördern Sie auch.
Jahn: Herr Wolf, wir haben gerade jetzt bei Corona aber noch etwas gesehen, es geht nicht nur um die Perspektiven, die man selbst entwickelt für eine Bildungskarriere, sondern auch um ganz praktische Hindernisse. In Deutschland hängt Bildungserfolg und soziale Herkunft ja sehr stark zusammen. Das hat sich gerade jetzt gezeigt. Kinder aus gut situierten Familien sind digital zu Hause bestens ausgestattet und präpariert für den Heimunterricht. Kinder aus bildungsfernen Familien haben noch nicht mal einen eigenen Schreibtisch zuhause. Wie lässt sich aus Corona ableiten, wie sich Bildungschance in Deutschland verbessern lassen?
Möglichkeiten "für alle jungen Menschen" schaffen
Wolf: Da haben wir eine wirklich sehr wichtige gesellschaftliche und auch politische Aufgabe, denn natürlich der eigene Lebensweg und der Bildungsweg ist letztendlich ein wesentlicher Teil des Lebensweges, der darf nicht davon abhängen, in welche Umstände wir zufälligerweise geboren werden, in welchen Umständen wir aufwachsen. Das heißt, wir müssen dafür sorgen, dass wir tatsächlich auch gleiche Chancen haben. Diese große Thema seit einigen Jahrzehnten der Chancengleichheit, das wird nicht nur durch Corona, sondern generell in der Welt der Digitalisierung noch einmal sehr viel stärker, wie in einem Brennglas fokussiert sich diese Frage. Wie schaffen wir es, dass tatsächlich alle jungen Menschen vergleichbare Möglichkeiten haben, weil sie den nötigen Zugang haben, weil sie die offenen Türen finden. Das sind nicht nur Möglichkeiten zwischen unterschiedlichen Bildungs- und Ausbildungswegen, zu wählen, sondern tatsächlich auch ganz pragmatische und praktische Möglichkeiten, Zugang zu haben zu den Technologien, die heute das Leben bestimmen und die mitbestimmen, wie wir uns entwickeln und wie wir unser Leben tatsächlich gestalten können.
Jahn: Wie sieht es aus mit anderen Möglichkeiten, die noch viel früher ansetzen? Also eine Möglichkeit könnte ja auch sein, Kinder länger zusammen zu unterrichten, also sehr viel später zu selektieren.
Wolf: Das ist natürlich eine viel diskutierte Frage. Wahrscheinlich gibt es da nicht unbedingt einen Königsweg, sondern ganz entscheidend ist, dass Entscheidungen und auch Wege immer wieder korrigiert werden können. Deshalb öffnen wir die Hochschulen auch für Studienanfängerinnen und Studienanfänger, die sich für einen beruflichen Weg zunächst einmal entschieden haben. Deswegen haben wir heute auch ein sehr vielschichtiges Bildungssystem mit ganz unterschiedlichen Schularten, Gott sei Dank. Das Entscheidende daran, glaube ich, ist tatsächlich, dass nicht festgelegt wird an einer Stelle der persönlichen Entwicklung zu einem bestimmten Zeitpunkt des Lebens, wie das gesamte weitere Leben sich weiterentwickeln soll. Es muss immer wieder unterschiedliche Wahlmöglichkeiten geben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.