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Suchbild. Meine Mutter

In den 70er Jahren machte sich in Deutschland eine Schriftstellergeneration daran, die Mittäterschaft der eigenen Väter im Nationalsozialismus zu untersuchen. Es entstand die sogenannte "Väterliteratur". Die neben einer Genealogie der Familie immer auch eine geistige Standortbestimmung der Schreibenden war. Ein Selbstporträt im Fremdporträt. Christoph Meckel hat 1980 das "Suchbild. Über meinen Vater" herausgebracht.

Oliver Seppelfricke | 15.01.2003
    Nach dem Vaterbuch folgt nun das Mutterbuch. Christoph Meckel hat bis zum Tod seiner Mutter gewartet, um es zu veröffentlichen. Geschrieben hat er es zu ihren Lebzeiten schon.

    "Ich habe meine Mutter nicht geliebt." So lautet einer der ersten Sätze in diesem Buch. Das keine fiktive Mutterbeschwörung ist, keine um Privates angereicherte Erzählung oder ein autobiografischer Roman gar, sondern: die Auseinandersetzung des wirklichen Menschen Christoph Meckel mit seiner wirklichen Mutter. Es ist, um es gleich zu sagen, eine Abrechnung geworden. Auf 120 Seiten macht Christoph Meckel klar, warum er seine Mutter nicht geliebt hat. Warum er sie nicht lieben konnte. Denn: Die Mutter ist unnahbar, sie ist jedem Gefühl fern, sie ist erhaben überlegen, für das Kind unerreichbar, sie ist abweisend fern, und das ist für jedes Kind unerträglich.

    "Sie war an nichts Unmittelbarem interessiert", heißt es. Sie hat nie einen Menschen gekitzelt, nie einen Menschen ins Unrecht gesetzt oder einfach ausgelacht, nein, sie hat immer nur fein förmlich über Menschen geredet, so heißt es, hat sie wie ein Mühlwerk zermahlen, bis kaum noch etwas übrig war von ihnen. Eine Unnahbare. "Ein Gespräch als Zerfressen", schreibt Meckel. Und: "Sie erkannte menschliches Leiden vor allem da, wo es nicht in Hautnähe kam, wo es bildhaft blieb."

    Die ferne Mutter, die Richterin, die Rechthaberin, die Verkörperung von Gewißheit und gutem Gewissen – das, man ahnt es, war zu viel für einen kleinen Jungen, der sich nach Liebe und Nähe sehnte. Bereits auf fünf Seiten hat Christoph Meckel ein Porträt seiner Mutter angedeutet. Und auf den folgenden 120 Seiten führt er es aus: Er benennt einzelne Ereignisse, die wie Wegmarken sein Verhältnis zu seiner Mutter bestimmt hatten, benennt Stationen, auf denen er sich von ihr entfernt, versucht sich ihrem Wesen zu nähern, indem er in einer Art loser Chronologie das Leben der Mutter von ihrer Geburt bis zum Alter durchläuft. Vor allem natürlich die Jahre mit ihm, dem Sohn.

    Was ihn am meisten interessiert, so zumindest schreibt er es, ist "das nicht gelebte Leben dieser Frau". Wie konnte sie werden, wer sie war? Wie konnte sie an sich selber (und damit auch an den anderen) vorbeigehen? Aus einem preußischen und protestantischen Elternhaus stammte sie, der Vater starb früh, die Liebe der Mutter vermochte den Verlust nicht aufzuheben, von einer Gefühlsstarre wurde sie befallen, "eine Erkältung der Seele ein Leben lang", schreibt Meckel. Die Herkunft der Mutter gehört zu den wenigen Stellen, an denen Christoph Meckel versucht, seiner Mutter verstehend nahezukommen. Der Rest des Buches ist eine einzige Invektive gegen sie, eine Abrechnung mit ihr, eine Schrift voller Vorwürfe, ein Pamphlet beinah.

    Hochmütig sei sie gewesen, unzugänglich und kalt, herrschsüchtig und nicht lebenslustig, eine Intellektuelle des bürgerlichen Zeitalters der 30er bis 60er Jahre, als man auf den Abendgesellschaften noch Adorno oder Heidegger diskutieren konnte, als man das Leben noch in großen Gesprächen verhandelte anstatt es in kleinen Ereignissen zu leben. Eine Frau, gefestigt in Religion und Moral, die jeden Zweifel aus dem Leben vertrieb, bis es starr wurde. Geistreich und gebildet, aber zu selbstsüchtig und selbstverliebt, eine Frau, die ihre Zeit mit Reisen ins Ausland verbrachte anstatt mit ihren Kindern zuhause, und die ihren Mann, als er aus dem Krieg als Gebrochener zurückkehrt, fallenlässt, weil er fortfährt, sie blind zu verehren kann anstatt ihr auch nur einmal Paroli zu bieten. Das ist der bittere Stoff der Anklage, vielleicht klingt er vertraut, aber der Ton, in dem all dies vorgetragen wird, läßt aufhorchen.

    Wie der Vater – oder in diesem Fall: wie die Mutter – so der Sohn. Denn Christoph Meckels Buch weist genau die Eigenschaften auf, die der Autor an seiner Mutter so sehr kritisiert: Selbstgerecht und rechthaberisch sei sie gewesen, und das ist der Autor auch! Über jeden Zweifel scheint er erhaben, von keiner Ungewißheit geplagt, er scheint alles über seine Mutter zu wissen, jede kleinste Regung kann er interpretieren, er kennt sie besser als sie sich selbst, so scheint es. Nicht "Suchbild. Meine Mutter" sollte dieses Buch daher heißen, sondern: "Im Fadenkreuz, oder: Steckbrief. Meine Mutter". Hier wird nichts gesucht, aber alles gefunden! Ob das Buch seinem Autor geholfen hat, sich mit seiner Mutter zu versöhnen? Sich von ihr zu befreien?!

    Ansonsten finden wir den bekannten Meckelschen Stil: die Satzreihen, die einen Gedanken logisch ableiten und unerbittlich bis in die kleinsten Verästelungen verfolgen, wir finden den Stil der Substantive und der sperrigen Beiwörter, wo von der "Schärfe des Erkennens" und von "festgesetzter Harmonie" die Rede ist. Eine rhythmische Prosa der Gedankenketten und der Strenge, die dem Thema gut ansteht. Aber eines vermissen wir noch: wie nämlich die Schriftstellerexistenz Christoph Meckels mit dessen Ablösung von seinem literarischen Elternhaus zusammenhängt. Wie das Kind sich vom Elternhaus, in dem alle schrieben (Vater, Mutter, Sohn) losschreibt. Das wäre spannend zu lesen. Vielleicht gibt es also bald den dritten Band "Suchbild" mit "Ich als Schriftsteller"!? Aber dann bitte mit ein bißchen mehr Zweifel!