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Suche nach dem toten Bruder

Da macht sich jemand auf die Suche, macht sich auf die Reise in die eigene Vergangenheit und in die Gegenwart eines fremden Landes. Martha Lenders ist schon Mitte 70 als sie sich entschließt, auf den Spuren ihres verschollenen Bruders nach Polen zu reisen. Johannes war erst 16 Jahre alt, als er im Januar 1945 im letzten Aufgebot des Reichsarbeitsdienstes aus seiner Heimatstadt Dresden in den Warthegau geschickt wird. Der zweite Weltkrieg ist in Polen schon fast vorbei, die sowjetischen Truppen stehen weit im Westen. Irgendwo zwischen den Linien, zwischen letztem Gefecht und verzweifelter Flucht hat Johannes wohl sein Leben gelassen. Martha Lenders will es genauer wissen. Ist er in Gefangenschaft geraten? Wurde er erschossen, ist er wie so viele seiner Kameraden erfroren?

Von Elke Biesel | 02.07.2007
    " Im Januar 1945 noch einmal 2000 16-Jährige, der Jahrgang 1928, die sind noch mal in den so genannten Warthegau berufen worden, in den Kreis Ostrowo, obwohl der Generalarbeitsführer von diesem Distrikt Litzmannstadt, die waren schon auf der Flucht in die vorausberechnete amerikanische Gefangenschaft und haben diese Jungs da noch mal hinbeordert, das ist so eine Ungeheuerlichkeit. "

    Die Geschichte, die die Schriftstellerin Anne Dorn in ihrem Roman "Siedichum" erzählt, trägt biografische Züge. Die Reise nach Polen, die Recherche in den Archiven und vor Ort, um Hinweise auf den Verbleib des vermissten Bruders zu finden. Trotzdem ist ihr Buch keine Autobiografie, sondern ein kunstvoll gebauter Roman, der verschiedene Textsorten miteinander verquickt: Berichte von Zeitzeugen, amtliche Dokumente, fiktionale Briefe, Prosa und Poesie. Zusammengehalten wird das alles von einer Idee, von einem Kraftfeld, das Anne Dorn mit einem Magneten vergleicht:

    " Ich bin jemand, der sich keine großen Pläne macht (...) Ich brauche eine ganz heftige Berührung psychologischer Natur, irgendwas muss mich ungeheuer beschäftigen und das ist wie ein Magnet und da seh ich dann, was kann ich daran assimilieren. Das sind sehr verschiedene Dinge und die muss ich dann in eine Ordnung bringen. "

    Im Zentrum dieser Kraft, die hilft der Materialfülle eine Gestalt zu geben, steht das zentrale Thema der Suche. Die umfasst jedoch viel mehr Aspekte als allein die konkrete Brudersuche. Anne Dorn stellt sich die Frage, ob nicht alles ganz anders hätte kommen können, sie schaut sich um in verschiedenen Epochen und Realitäten, sie sucht nach Gemeinsamkeiten mit anderen Menschen und letztlich nach der eigenen Identität. Der Bruder ist auch das Symbol für die Sehnsucht nach Verschmelzung, nach einer utopischen Vollkommenheit, die nur gemeinsam erreichbar gewesen wäre:

    " Die überwiegende Intention war die Suche an sich. Nicht dass mein Bruder von Anfang im Zentrum gestanden hätte, das war nur ein Anlass, und vor allem auch ein Anlass: ich lebte ja schon lang im Westen, ich hatte meine Eltern im Osten so lange wie sie lebten, regelmäßig besucht - ich bin in der Nähe von Dresden groß geworden - und habe also die ganze deutsche Teilung gelebt (....) Auf jeden Fall war das auch noch mal eine Wendung vom Westen nach Osten. Und da hab ich das Gefühl gehabt, das muss ich noch einmal machen, bevor ich von der Welt verschwinde. "

    Der deutsch-deutschen Geschichte hat sich Anne Dorn schon früh in ihrem 1991 erschienenen Roman "Hüben und drüben" gewidmet, der deutsch-polnischen Historie näherte sie sich über die Literatur an, über Gespräche mit polnischen Intellektuellen, die sie beflügelt haben, wie sie sagt.

    Ihr Roman ist eine behutsame Erkundung eines schwierigen Kapitels binationaler Geschichte, das weiterwirkt bis in die Gegenwart. Ihre Protagonistin Martha Lenders ist vorsichtig, denn sie weiß um die Gründe für die Empfindlichkeiten ihrer polnischen Gastgeber. Aber die Autorin erzählt auch von der anderen Seite: von den Deutschen, die nach dem Kriegsende in polnische Gefangenschaft gerieten, von Lagern, die es offiziell gar nicht hätte geben dürfen und in denen viele Männer starben. Auch heute noch ein heikles Thema.

    " Es lässt sich überhaupt nichts aufrechnen. Wenn Leute sagen, es ist alles mit gegenseitigem guten Willen zu regeln, das ist es nicht, das geht nicht. Da sind ja Verletzungen, die sehr tief sitzen und schon eine lange Geschichte haben. "

    Auf keinen Fall wollte Anne Dorn mit ihrer Geschichte neue Verletzungen auf der polnischen Seite schaffen. Ihrem Buch liegt als Grundfolie genau der gegenteilige Gedanke zugrunde: Angesichts von zwei Weltkriegen, von zwei Ideologien, die im letzten Jahrhundert die Menschen mit falschen Verheißungen und Gewalt unterjochten, sagt sie:

    " Deswegen verlieren die Menschen ihre Sicherheit, sie verlieren ihr Vertrauen. Und wenn man dann auch noch ein Opfer von Gewalt wird, dann verliert man in gewisser Weise auch seine Liebesfähigkeit, oder die reduziert sich. Was mich nun interessiert hat Ende des 20. Jahrhunderts und Anfang des 2. Jahrtausends: Wie leben Menschen mit diesen seelischen Lücken. "

    Am anrührendsten ist dieses Motiv in einer zarten Liebesgeschichte am Ende des Romans aufgegriffen. Zwei alte Menschen fragen sich plötzlich, wie es wäre, nicht mehr allein zu sein, wie es sich anfühlen könnte, noch einmal eine Zugehörigkeit zu spüren. Jenseits von allem Kitsch beschreibt Anne Dorn diese tastenden Szenen und teilt ihren jüngeren Lesern indirekt mit, dass die Befangenheiten und Befürchtungen der Nähe auch im Alter nicht nachlassen.

    "Siehdichum" ist aus der Perspektive eines alten Menschen geschrieben. Es erzählt vom Alter und seinen Gebrechen, aber es ist kein Buch für eine bestimmte Generation. Ganz bewusst hat die Autorin die Altersstufen ihres Personals gemischt und die Handlung in der Gegenwart verankert. Und gerade in der beschriebenen Entwurzelung und Verunsicherung ihrer eigenen Generation sieht Dorn, die selbst siebenfache Großmutter ist, eine Verbindung zu jüngeren Menschen:

    " Was gibt man seinen Kindern weiter? Das , was man hat. Wenn man kein Vertrauen hat, kann man es ihnen nicht weiter geben. Dieses Fundament, diese Selbstverständlichkeit, wir sind wir und ich bin ich, das gibt es nicht mehr, das ist verschwunden (...) Insofern sind die nachfolgenden Generationen natürlich betroffen. Das ist nicht ausformuliert , aber das Gefühl dafür ist da."

    Im Roman, sagt Anne Dorn, gehe es darum, ein "Stückchen Leben flüssig zu machen, damit es einsickern" kann. Um Lebendigkeit gehe es ihr. In "Siehdichum" ist dieses Vorhaben nicht in allen Passagen gleich gut gelungen. An manchen Stellen drängt sich die Konstruktion zu sehr in den Vordergrund, erscheinen die Übergänge zu gleichförmig, die Schnitte zu unvermittelt. Aber das sind nur kleine Einschränkungen. Im Vordergrund steht eine gelungene Verbindung von Geschichte und Gegenwart vermittelt von einer glaubwürdigen Protagonistin.

    Die einfache, klare Sprache Anne Dorns, fast durchgängig im Präsens geschrieben, ist manchmal von einer überraschenden Direktheit, der Leser glaubt, neben Martha Lenders zu stehen, auch wenn Dorns auktoriale Perspektive Distanz zu ihr wahrt. Zu ihrer höchsten Verdichtung und poetischen Kraft findet Dorns Sprache in den Naturdarstellungen, die die innere Verbindung der Autorin mit dem Beschriebenen anklingen lassen.

    " In diesem Buch ist es halt auch so, dass die Suche von Martha Lenders, sie beginnt in der Stadt ... aber nicht von ungefähr steigt sie in den falschen Zug ein und der fährt justament in diese große Waldgebiete hinein, wo ihr Bruder vermutlich sein Ende gefunden hat und da gibt es sozusagen für sie kein Halten mehr. Sie kann alle ihre Erfahrungen, die sie mit dem Bruder gemacht hat, aber auch danach, kann sie während dieser abenteuerlichen Fahrten (...) da kann sie das alles unterbringen, was sie sich wünscht, fürchtet, weiß. Insofern ist der Wald die absolute Hauptfigur in diesem Roman. "

    In den Tiefen der oberschlesischen Wälder liegt auch das Geheimnis des Romantitels verborgen: "Siehdichum, geschrieben in einem Wort. Zuerst hatte Anne Dorn als Arbeitstitel für ihre Brudersuche die "Antigone" gewählt, dann aber fand sie in den Aufzeichnungen von Zeitzeugen ein Dorf angegeben mit dem Namen "Siehdichum. War es nur eine falsch entzifferte Handschrift oder tatsächlich ein schicksalhafter Ort für den jüngeren Bruder und seine Kameraden?

    " Es gab in diesen riesigen Wäldern Ortschaften, die hatten ganz kuriose Namen: Haltauf, Stehdoch, Siehdichfür, Siegda und was nicht alles und zwar weil in diesen Wäldern die Räuber hausten. Ich hab nachher solche Orte aufgesucht, die sind ganz klein, fünf, sieben Häuser. Es ist wirklich ergreifend. "

    Anne Dorn hat sich noch einmal umgesehen, hat die Kraft der Erinnerung mit der Offenheit für das Gegenwärtige verbunden - und sie ist fündig geworden.

    Anne Dorn: Siehdichum
    Roman, Dittrich Verlag
    300 Seiten, 22,80 Euro