Donnerstag, 28. März 2024

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Suche nach der locus amoenus

Der Schriftsteller Tankred Dorst, der im nächsten Jahr achtzig wird, geht so großzügig um mit seinen Einfällen und Motiven, als hätte er noch immer einen unerschöpflichen Vorrat davon. Die Erzählung "Der schöne Ort" ist aus den unterschiedlichsten Handlungsfäden zusammengeknüpft, die Knoten sind kaum zu bemerken und auch nicht entscheidend für die Dramaturgie des Textes. Diese ist ausschließlich von einer thematischen Idee bestimmt: der Suche nach dem schönen Ort. Der Text selbst, zu großen Teilen aus Dialogen und inneren Monologen bestehend, macht nicht viel Aufhebens um sich: Noch der sensationellste Vorfall wird in dieser Erzählung förmlich ausgetrocknet, kleingeredet, reduziert, manchmal in einen naiv-märchenhaften Tonfall gebannt. Da ist die halbwüchsige Lilly, Tochter einer Alkoholikerin, die mit ihrem kleinen Bruder nach Spanien trampt und im Escorial ein Bild des spanischen Königs stiehlt, weil sie in kindlicher Einfalt glaubt, er sei ihr Vater. Der Kunsthistoriker Bonsack wird mit seinen beiden Begleiterinnen Augenzeuge des Vorfalls, aber er interessiert sich nur dafür, einer der Damen - die andere ist seine Frau - mit seinen Kenntnissen zu imponieren. Und Bonsacks frühere Geliebte Lisa, die sich mit ihrer dominanten Mutter eine Mansarde teilt und vorübergehend die Wohnung ihrer bewunderten Freundin Dagmar hütet, wird eines Nachts, aus der Dusche kommend, erstochen. Das kennen wir doch? Ja, die Szene zitiert Hitchcocks "Psycho", aber so beiläufig und ohne jeden artistischen Ehrgeiz, dass man sich fragt, ob es sich nicht doch eher um einen ästhetischen Gegenentwurf, eine Übung in Lakonie handelt als um ein Zitat.

Von Martin Krumbholz | 04.01.2005
    Was muss man sich unter dem "schönen Ort" vorstellen, den der Titel nennt? Erwähnt wird er nur einmal. Da spricht der Text von einer verlassenen Stadt an einem Sommertag:

    Die Häuser mit den weit geöffneten Fenstern sehen verlassen aus, als ob eine Katastrophe passiert wäre, eine Epidemie alles Leben zum Erliegen gebracht oder eine Kriegsdrohung die Bewohner vertreiben hätte. Wohin? In eine Gegend, wo Bäche glucksen und Vögel zwitschern. Irgendwo muss dieser schöne Ort sein, wo sich die Geflüchteten wieder finden und versammeln und, die Zeit bis zum kühlen Abend auf ihren Handtüchern hockend, mit Zurufen und gegenseitiger Erinnerung zubringen.

    Doch der schöne Ort, an den es die Menschen unwiderstehlich zieht, nimmt im Lauf der Erzählung die unterschiedlichsten Formen und Gestalten an; je nach Temperament und Bedürfnis der handelnden Figuren. Dagmars schicke Wohnung kann für Lisa diesen Ort bereits darstellen; umgekehrt leidet Bonsack unter der Perfektion seiner Umgebung, die er zugleich zu benötigen glaubt:

    Ich bin ein Fremder in diesem Paradies, ich gehe da herum, ein Fremder... Aber das Schlimme ist: Ohne das alles kann ich nicht leben. Ich brauche den Luxus! Und das Allerschlimmste: Ich nehme es Anna ein wenig übel, dass sie mir dieses Leben ermöglicht.

    Die luxuriösen und kuriosen Widersprüche eines Schöngeistes stehen in scharfem Kontrast zu der Energie der jungen Lissy, die in einem verzweifelten Diebstahl ihr Glück sucht. Der weltfremde "Schriftsteller" Albrecht wiederum geht allen Menschen mit der viel zu direkt gestellten Frage auf die Nerven, ob sie glücklich sind, hier und jetzt _ die heimliche Kardinalfrage der Dorstschen Erzählung findet ihre Antwort in den Bewegungen der Figuren, in ihren kleinen oder grösseren Fluchten, die auch endgültige Fluchten mit schwerer symbolischer Fracht sein können. Ein Toter wird im Gestänge einer Hochspannungsleitung entdeckt, er sieht aus "wie der Gekreuzigte". Dieser Mann hat, das weiß der Leser und nicht die Polizei, eine Art Vermächtnis an die Menschheit hinterlassen:

    Alle Gefühle müssen ausgelöscht werden. Liebe macht hilflos. Alle Bedürfnisse nach Schönheit und nach Lebensgenuß müssen verschwinden. Mein Name muss verschwinden. Niemand darf wissen, wie ich heiße. Ich muss mich unempfindlich machen gegen Schmerzen, ich muss Schmerzen ertragen, wie wenn es ein fremder Schmerz wäre, einer, der mich nichts angeht. Ich muss traumlos schlafen.

    Hat der Mann tatsächlich "in einem Anfall von Geisteskrankheit seinen schrecklichen, bizarren Tod gewählt", wie die Polizei vermutet - oder stellt am Ende auch jener so deutlich exponierte Platz "zwischen Himmel und Erde" eine makabre Version des "schönen Ortes" dar: ein Mahnmal in Gestalt eines Menschen?

    Das wäre die krasse Negation der Suche nach dem "flüchtigen Lebensaugenblick des Glücks". Diese Formel hat Bonsack auf eine Karte mit dem Watteaubild "Pierrot content" geschrieben, Pierrot ist zufrieden. Ein transitiver Zustand. Und wenn dieser flüchtige Zustand sich einmal verfestigt, in der Gestalt eines Hauses am See mit Swimmingpool und Art-déco-Möbeln, wird er gleich zur Falle und weckt Misstrauen. Der schöne Ort ist und bleibt Projektion, er zerfließt; tut er das wider Erwarten nicht, hört er prompt auf, als schöner Ort erkannt zu werden.

    Dorsts Erzählung macht es dem Leser nicht leicht. Seine skizzenhafte Form mit vielen Leerstellen, die schroffen Übergänge von einem Motiv zum nächsten, die an harte filmische Schnitte erinnern, stellen eine Herausforderung dar an das Konkretionsvermögen des Lesers, der einmal nicht an einer glatt aufgehenden Geschichte interessiert ist, sondern an einem Blick auf die nicht lösbaren Rätsel der Welt und an den ästhetischen Chiffren, die ihnen entsprechen.