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Sucht und Klischee

Sex sells. Dass sich nicht nur Dessous, sondern sogar Autoreifen besser verkaufen, wenn eine leicht bekleidete Blondine dafür wirbt, ist ein uralter Hut. Dass Popsongs schneller in den Charts nach oben klettern, wenn im Videoclip junge Mädchen mit ihrem gut gepuderten Po im Takt der Musik wackeln, daran haben sich schon die neunjährigen Zuschauer gewöhnt. Und dass kaum noch ein Film ohne Sexszene auskommt, das nehmen wir längst als gegeben. Ungewöhnlich ist, wenn ein Video, ein Film solche Muster nicht mehr bedient und dennoch ein Hit, ein Kassenschlager wird.

Von Simone Hamm | 06.09.2004
    Und auch ein Buch muss heute, in den Zeiten der übersexten Nachmittagstalkshows, schon mehr bieten als zarte Umschreibungen für die körperliche Liebe. Autoren können Tabus brechen, wie vor einigen Jahren beim Ingeborg Bachmann Wettbewerb in Klagenfurt mit "Babys ficken" oder sich seitenweise ergehen in klinisch genauen Darstellungen von Sex wie die amerikanischen Bestsellerautoren.

    Oder sie geben ganz einfach vor, eine wahre Geschichte zu schreiben. Catherine Millets "Das sexuelle Leben der Cathrine M." hat sich nicht wegen der drastischen, pornografischen Sexszenen so gut verkauft, sondern vor allem deswegen, weil sie beteuert, alles, was sie schreibt, auch selbst erlebt zu haben. Ganz Paris rät mit, wer die reale Vorlage für diesen oder jenen Gruppensexpartyteilnehmer gegeben hat.

    Authentizität als Ingredienz eines erotischen Romans – dieses Mittels hat sich auch die in London lebende Chinesin Hong Ying in "Die chinesische Geliebte" bedient.

    In China ist Ende des sechzehnten, Anfang des 17. Jahrhunderts der Roman Jin Ping Mei erschienen. Lange hatte er den Ruf gehabt, hemmungslose Pornografie zu sein. Heute sieht ihn die chinesische Literaturwissenschaft als den ersten wirklichen chinesischen Roman an, als einen Roman, der Historie und Legende beiseite gelassen hat und einen Kosmos eigener Schöpfung behandelt. An diesem Roman wird jede chinesische Autorin, die ein erotisches Buch schreibt, sich messen lassen müssen.

    Hong Ying weiß das und deshalb zitiert sie in "Die chinesische Geliebte" aus dem Jing Ping Mei - und sie gibt vor, eine wahre Geschichte niederzuschreiben. Eigentlich kann jetzt gar nichts mehr schief gehen. Über diesen Roman wird man sprechen.

    Sie in erzählt von Julian Bell, dem Neffen Virginia Wolffs, der sich im China der dreißiger Jahre in Lin, die Frau eines Professoren verliebt. Sie führt den acht Jahre Jüngeren in die Kunst der Liebe ein. In einem Stil zwischen Courths – Maler und Männermagazin plätschert die Handlung dahin:
    Im dampfenden Wasser stehend, konnte Julian die brennende Lust kaum ertragen. Er fühlte sich wie ein chinesischer Fürst, der drei Paläste, sechs Höfe und dreitausend Mädchen sein eigen nannte. Mit fürstlichen Augen betrachtete er Lin. Das Wasser umschmeichelte ihre makellosen Konturen, und ihre Schönheit kam so noch mehr zur Geltung. Er sah ihre glatte, jadegleiche Scham, die ihm nun noch holder schien…Seine Brusthaare trieben wie Seetang auf den Wogen…

    Julien und Lin erfüllen jedes Klischee. Sie ist die geheimnisvolle, mandeläugige asiatische Frau, die er nie wirklich begreifen wird. Er ist der junge Verführte, hingerissen von ihrem Körper und den taoistischen Praktiken der Liebe, die sie ihn lehrt. Er ist süchtig nach ihr, er versucht, sich von ihr zu lösen, er demütigt sie, er landet doch wieder in ihren Armen.

    Weil Hong Ying sich bewusst ist, dass die ausführlich beschriebenen morgendlichen Sexspiele auch den geduldigsten Leser irgendwann langweilen werden, fügt sie noch ein zweites Moment ein: brutale Gewalt. Sie lässt Julien vor Lin fliehen. Er will sich der roten Armee anschließen. Auf der Suche nach Maos Armee kommt er durch geplünderte, niedergebrannte Dörfer. Er sieht Berge von Leichen, unvorstellbares Leid. Gefangene werden brutal gefoltert, hingerichtet, sogar ein Kind ist dabei.

    Der Platz war von menschlichen Köpfen und Rümpfen übersäht, es war ein einziges Blutbad. Er schloss die Augen. "Hoch lebe die…-" hörte er den Jungen ein letztes Mal rufen, bevor der dumpfe Schlag erklang. Julien taumelte drei Schritte zurück, als wolle er dem spritzenden Blut ausweichen, und brach auf dem Boden zusammen. Eine Feuersbrunst des Ekels durchfuhr seinen Körper.

    Hong Ying hat die Wirkung ihrer Mischung aus Sex und Brutalität genau kalkuliert. Sie will schockieren. In China ist ihr Buch verboten, weil die Tochter der wirklichen Lin ihre Mutter so nicht dargestellt sehen will. Hong Ying sieht darin Zensur. Der Verlag wirbt mit dem Slogan "In China auf dem Index, ein Bestseller weltweit". Das hat für Hong Ying den unschätzbaren Vorteil, dass so mancher sich über die Zensur erregt und über die literarischen Mängel des Buches glatt hinweg liest.

    Auch in Deutschland wehren sich die früheren Freundinnen von Schriftstellern gegen eine allzu realistische, drastische Darstellung ihres Sexlebens. Wie immer man dazu stehen mag, dass Menschen, die sich durch Autoren in den Schmutz gezogen fühlen, zum Gericht laufen, jedenfalls ist das kein rein chinesisches Phänomen.

    Dabei kann Hong Ying ganz anders schreiben. 1997 wurde sie bekannt mit "Der verratene Sommer", einem Roman über die Zeit nach dem Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens, einem Roman über verwirrte, ohnmächtige junge Menschen: Sie fühlen sich einsam, verlassen, verraten. Ihre Welt ist aus den Fugen geraten. Darüber können auch schneller Sex, heiße Partys und verrückte Vernissagen nicht hinwegtäuschen. "Die chinesische Geliebte" ist ein glatter Roman ohne jede Tiefe. Er verstört nicht, beunruhigt nicht. Man legt ihn aus der Hand, ärgert sich ein bisschen darüber, dass Hong Yings Kalkül so durchschaubar ist, und vergisst ihn.

    Hong Ying
    Die chinesische Geliebte
    Aufbau Verlag, 270 S., EUR 17,90