Freitag, 19. April 2024

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Suchtmediziner zum "Jahrbuch Sucht"
Gefahren von Alkohol werden unterschätzt

Alkohol spielt bei fast 200 Krankheiten eine Rolle. Dennoch gehören gerade die vermeintlich harmlosen Drogen wie Alkohol und Tabak zu den meist konsumierten Substanzen in Deutschland, sagte der Suchtmediziner Derik Hermann im Dlf. Der Grund: In Deutschland fehle diesbezüglich ein Problembewusstsein.

Derik Hermann im Gespräch mit Lennart Pyritz | 03.04.2018
    Die Weltgesundheitsorganisation WHO plädiert für ein Werbeverbot für Bier
    In Deutschland gehört der Alkohol zum gesellschaftlichen Leben - in anderen Ländern hingegen wird der Alkoholkonsum deutlich stärker reglementiert. ( Jan Woitas /dpa-Zentralbild)
    Lennart Pyritz: Etwa zehn Liter, also einen herkömmlichen Putzeimer voll – so viel reinen Alkohol hat jede Bundesbürgerin, jeder Bundesbürger im Lebensalter ab 15 Jahren durchschnittlich im Jahr 2015 konsumiert: Eine Zahl aus dem neuen "Jahrbuch Sucht", das die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen vergangene Woche vorgelegt hat. Auch andere legale und illegale Drogen werden demzufolge in Deutschland in großer Menge konsumiert.
    Wir wollen an dieser Stelle ein paar der Zahlen und Trends aus wissenschaftlicher Sicht einordnen. Dazu habe ich mit Professor Derik Hermann telefoniert, Suchtmediziner am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Ich habe ihn zuerst gefragt, ob es aus seiner Sicht Überraschungen im neuen Jahrbuch gibt…
    Derik Hermann: Im Großen und Ganzen hat mich der Bericht nicht überrascht. Das ist weitgehend unverändert zu den letzten Jahren, und ich glaube das spiegelt auch wieder, dass sich im Prinzip im Suchtbereich keine wirklichen Neuerungen ergeben haben, weder von der wissenschaftlichen Seite, noch von der Politik, sodass sich dadurch einfach das Verhalten nicht groß geändert hat.
    Hermann: Alkohol ist billig und rund um die Uhr in Deutschland überall verfügbar
    Pyritz: Das mit Abstand massivste Problem ist, dem Bericht zufolge, immer noch der Alkoholkonsum. Warum ist es aus therapeutischer Sicht so schwer, das Verhalten der Bevölkerung – unser Verhalten – in diesem Punkt zu verändern?
    Hermann: Da gibt es zwei Ebenen, warum es schwierig ist, dieses Verhalten zu verändern. Das Eine ist einfach mal das Individuum. Und da ist es natürlich so, dass Alkohol Spaß macht, beziehungsweise im Gehirn das Belohnungszentrum aktiviert. Das bedeutet, dass Alkohol glücklich macht und es natürlich deswegen naheliegend ist, mal wieder Alkohol zu trinken. Das führt auch dazu, dass eben einige Personen davon abhängig werden, weil sie dann eben keine Kontrolle mehr darüber haben, wie viel sie konsumieren, weil es eben einfach diese Attraktivität gibt.
    Umgekehrt ist es auch sehr belohnend, wenn man gerade in einer Stresssituation steckt und dann einfach etwas sucht, was einen wieder runter bringt, was einen beruhigt, und da ist Alkohol eine Substanz, die eben auch sehr attraktiv ist, weil das mit Alkohol sehr gut funktioniert. Dann gibt es natürlich noch dazu eine gesellschaftliche Ebene, und der gesellschaftliche Umgang mit Alkohol in Deutschland ist sehr liberal. Das heißt, man kann eigentlich Alkohol, anders als in vielen anderen Ländern, im Supermarkt kaufen, er ist überall verfügbar, eigentlich auch rund um die Uhr verfügbar, er ist billig. Und insgesamt ist das gesellschaftliche Klima in Deutschland doch so, dass es einfach dazugehört, Alkohol zu trinken. Und solange da nicht ein stärkeres Gesundheitsbewusstsein oder Problembewusstsein bezüglich Alkohol entwickelt wird, wird sich das auch sicherlich nicht so leicht verändern lassen.
    Die Politik ist gefordert
    Pyritz: Welche Maßnahmen müssten denn, aus Sicht der Suchtforschung, konkret ergriffen werden, um beim Alkoholkonsum tatsächlich etwas zu bewirken?
    Hermann: Es gibt sehr gute Untersuchungen der Weltgesundheitsorganisation dazu, wie man denn den Alkoholkonsum in einer größeren Gesellschaft reduzieren kann. Diese Maßnahmen sind auch alle nicht einfach nur Vorschläge, sondern wissenschaftlich geprüft und eigentlich auch schon seit mehreren Jahren bekannt. Die WHO versucht es immer, den Politikern und Entscheidungsträgern der Länder, nahezulegen, diese Maßnahmen auch zu ergreifen – was in Deutschland nur unzureichend geschehen ist.
    Konkret beinhaltet das zum Beispiel, dass die Preise erhöht werden könnten – auf Alkohol –, dass die Besteuerung erhöht werden könnte. Andere Ansatzpunkte sind, Alkoholwerbung zu verbieten, dass man überhaupt die Verfügbarkeit von Alkohol reduziert. Es gibt also einfach Möglichkeiten, die quasi für jeden, der geplant Alkohol trinken will, den Konsum immer noch möglich machen, aber gerade die, die eben einfach nach dem Konsum von mehreren Getränken noch weiter trinken wollen – da, wo es dann auch gefährlich wird –, diesen Konsum eher einzuschränken.
    Pyritz: Bei den illegalen Drogen steht Cannabis, dem Bericht zufolge, nach wie vor an der Spitze. Über die vergangenen 25 Jahre sei insgesamt ein zunehmender Trend auszumachen. Werden die medizinischen Risiken des Cannabiskonsums nach wie vor unterschätzt?
    Hermann: Ich glaube eher, dass das Gegenteil der Fall ist. Im Prinzip ist es so, dass es ganz typisch ist, dass die Risiken von illegalen Substanzen eher als groß eingeschätzt werden und die von legalen Substanzen – wie Alkohol und Tabak – eher unterschätzt werden. Ich würde einfach sagen, es ist relativ klar, dass Cannabiskonsum nicht harmlos ist. Cannabiskonsum kann zu Psychosen führen, kann auch zu einer Abhängigkeit führen und gerade bei Jugendlichen auch einfach häufig zu sehr starken sozialen Problemen, sodass sie quasi ohne Abschluss von der Schule gehen oder auch psychische Probleme bekommen können. Von daher ist schon klar, dass Cannabis nicht harmlos ist. Aber umgekehrt ist es so, im Vergleich zu Alkohol sind die Risiken von Cannabis geringer. Was daran liegt, das Alkohol eben einfach bei fast 200 Krankheiten mit eine Rolle spielt, dass Alkohol Krebs auslösen kann, Leberzirrhose, Magen-Darm-Probleme. Da gibt es einfach eine sehr lange Liste. Das heißt, die Risiken von Cannabis sind durchaus vorhanden, die von Alkohol werden vor allen Dingen unterschätzt. Bei Cannabis, denke ich, ist es schon so, dass ein gewisses Risikobewusstsein auch da ist.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.