Freitag, 29. März 2024

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Sure 2 Vers 150
Wie der Koran die Mathematik vorangebracht hat

Irgendwann erfolgte im Koran die Aufforderung, sich beim Gebet nicht mehr gen Jerusalem aufzustellen, sondern in Richtung der Kaaba in Mekka. Solange die Kaaba in Sichtweite war, war das unproblematisch. Mit den Eroberungen großer Teile der damaligen Welt mussten sich die Muslime aber etwas einfallen lassen. Das brachte die Mathematik so weit voran, dass wir noch heute davon profitieren.

Von Prof. Dr. George Saliba, Columbia University, New York | 21.12.2018
    "Wo immer du herkommst, sollst du dein Antlitz in Richtung der Heiligen Moschee wenden! Wo immer ihr seid, wendet euch mit dem Antlitz dorthin!"
    Dieser Vers 150 enthält genauso wie der Vers 144 derselben Sure 2 eine sonderbare Aussage: Muslime, egal wo auf der Welt, werden aufgefordert, sich beim Gebet in Richtung der Heiligen Moschee in Mekka aufzustellen. Hören wir Vers 144 aus Sure 2: "Richte dein Antlitz beim Gebet in Richtung der Heiligen Moschee! Ihr sollt, wo immer ihr seid, euer Antlitz dorthin wenden. Die Schriftbesitzer wissen, dass es ein wahres Gebot Gottes ist."
    Die Sendereihe Koran erklärt als Multimediapräsentation
    Hintergrund beider Verse ist, dass die frühe muslimische Gemeinschaft zunächst der jüdischen Praxis folgte, und sich gen Jerusalem zum Gebet aufstellte. Irgendwie war der Prophet Mohammed damit auf einmal unglücklich; vielleicht ging es dabei um eine bessere Unterscheidbarkeit seiner neuen Religion von der älteren jüdischen. Jedenfalls offenbarte Gott dem Propheten die neue Vorschrift.
    Vers 144 hält zudem fest, dass die "Schriftbesitzer" - sprich Juden und Christen - wüssten, dass die neue Gebetsrichtung die wahre sei. Das hat damit zu tun, dass der Grundstein für das Heiligtum in Mekka einst von Abraham, dem Stammvater von Juden und Christen, gelegt worden war.
    Porträt von George Saliba
    George Saliba lehrt an der renommierten Columbia University in New York Islamische Naturwissenschaften. (priv.)
    Nun ist es natürlich kein großes Problem, sich in Richtung der Heiligen Moschee aufzustellen, wenn man in Mekka steht und das Heiligtum in Sichtweite ist. Als sich die Muslime aber auf der Arabischen Halbinsel und darüber hinaus ausbreiteten, konnten sie die Richtung nur noch errechnen - mit Hilfe mathematischer Geographie. Und das bedeutete, sie mussten die Krümmung der Erdoberfläche einkalkulieren. Das stieß eine weitreichende wissenschaftliche Entwicklung an.
    Auf einer ebenen Fläche kann die Richtung mit einer geraden Linie zwischen zwei Punkten bestimmt werden. Aber wie jeder Pilot einer Fluggesellschaft weiß, sind Richtungen zwischen zwei beliebigen Punkten auf einer kugelförmigen Oberfläche nicht begrenzt auf einen spezifischen Bogen, der sie verbindet. Vielmehr gibt es unendlich viele solcher Kreisbögen.
    Der kürzeste Kreisbogen führt entlang des so genannten Großkreises. Ein Großkreis schneidet die beide Punkte und fällt mit dem Mittelpunkt der Kugel zusammen. Die Kreisbögen werden schließlich mit einem Satz sich senkrecht schneidender Kreise vermessen, genannt Längen- und Breitenkreise.
    Die Astronomen und Mathematiker der islamischen Zivilisation im 9. Jahrhundert haben nun eine ganze Reihe von Gesetzen der sphärischen Trigonometrie entwickelt und verfeinert; die sphärische Trigonometrie ist ein Teilbereich der Kugelgeometrie. Dazu gehören zum Beispiel der Sinus-, Kosinus- und Tangenssatz für Kugeldreiecke.
    Die Gebetsrichtung wird nun entlang der Ebene eines Großkreises ausgerichtet. Der Großkreis muss den Zenit des Ortes, an dem man sich befindet, den Zenit in Mekka und den Mittelpunkt der Erde schneiden.
    Der Schnittpunkt dieser Ebene mit dem örtlichen Horizont wiederum bestimmt dann die Richtung und jene Stelle, an der in einer Moschee die Gebetsnische, arabisch "mihrâb", positioniert werden muss. Stellt sich die Gemeinde gegenüber dieser Nische zum Gebet auf, ist gesichert, dass alle der Heiligen Moschee zugewandt sind.
    Heutzutage kann jeder höhere Matheschüler, ausgerüstet mit Handhelds, von einem beliebigen Punkt des Erdballs aus die komplexe Richtungsbestimmung nach Mekka durchführen. Er braucht dafür nur die örtlichen Längen- und Breitengrade, diejenigen von Mekka und die Gesetze der sphärischen Trigonometrie.
    Man sieht, wie eine simple Aussage in zwei Koranversen ein neues Feld der Mathematik hervorbringen konnte - und das mit einer derartigen Perfektion, die früheren Zivilisationen unbekannt gewesen war.
    Und wo wir die sphärische Trigonometrie nun schon haben, steht sie uns auch für viele andere Zwecke zur Verfügung: von der mathematischen Geographie bis zu geodätischen Studien und der Steuerung von Flugzeugen über Ozeane und große Räume hinweg.
    Die Audioversion musste aus Sendezeitgründen etwas gekürzt werden.