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Sure 27 Vers 18
Von wundersamen Tiergeschichten und Streitigkeiten im Internet

Tiere spielten schon in der altarabischen Dichtung eine besondere Rolle. Auch im später entstandenen Koran tauchen verschiedene Tiere auf. Zu manchen gibt es ebenso wundersame wie unterhaltsame Geschichten. Sie beeinflussen bis heute muslimisches Denken.

Von Prof. em. Dr. Kees Versteegh, Universität Nijmegen, Niederlande | 02.11.2018
    "Bis sie in das Tal der Ameisen kamen. Da sprach eine Ameise: 'Ameisen! Geht hinein in eure Wohnungen, auf dass euch Salomo und seine Heerscharen nicht zertreten, ohne es zu bemerken.'"
    Obwohl Naturphänomene im Koran eine wichtige Rolle spielen, enthält der Text gar nicht so viele Beschreibungen der Pflanzen- und Tierwelt - anders als etwa die vor-islamische Dichtung. Sie ist voll von ausgefeilten Beschreibungen der natürlichen Umgebung. Die meisten Tierarten wie Kamele oder Kühe werden im Koran in ihrer Funktion als Lastbeziehungsweise Reittier oder als Schlachtvieh erwähnt, nicht als tierische Individuen.
    Die Sendereihe Koran erklärt als Multimediapräsentation
    Sure 27 mit dem Titel "Die Ameisen" ist da anders. Die Haupterzählung dreht sich um die Geschichte von König Salomo - im Arabischen Sulaimân genannt - und der Königin von Saba. Die Geschichte beginnt damit, dass Salomo, den die Muslime als Propheten ansehen, eine Streitmacht aus Männern, Dschinnen - das sind nach islamischem Glauben übersinnliche Wesen - und Vögeln aufstellt.
    Salomo beherrschte die Sprache der Tiere. Eine Gabe, die Gott ihm verliehen hatte. Es ist somit kein Zufall, dass Tiere, auf die Salomo bei seinem Feldzug traf, eine wichtigere Rolle spielen als andere im Koran erwähnte Tiere.
    Kees Versteegh
    Cornelis H.M. Versteegh, genannt Kees, ist einer der international bedeutendsten Arabisten. (priv. )
    Ein Wiedehopf etwa alarmiert Salomo, dass die Königin von Saba und deren Volk die Sonne statt den wahren Gott verehrten. Daraufhin wird der Vogel damit betraut, der Königin eine Botschaft zu überbringen, in der sie aufgefordert wird, zum Islam überzutreten.
    Wegen der Rolle als Bote eines Propheten genoss der Wiedehopf seitdem stets einen besonderen Status. Muslime interpretieren das typische Beugen seines Kopfes als Zeichen der Ehrerbietung gegenüber Gott. Laut islamischem Recht ist es nicht erlaubt, ihn zu verspeisen.
    Dann tauchen die Ameisen auf. In einem unterhaltsamen Zwischenspiel auf Salomos Feldzug ermahnt eine Ameise ihre Artgenossen, in Deckung zu gehen, damit sie von der herannahenden Armee nicht totgetrampelt werden.
    Im darauffolgenden Vers erkennt Salomo die Worte der Ameise mit einem Lächeln an. Wie es in späteren Geschichten heißt, befahl er seinen Männern zu warten, bis die Ameisen in Sicherheit waren.
    Geschichten, in denen Salomo mit Tieren spricht und Treffen mit Ameisen abhält, finden sich auch in jüdischen Legenden. Möglicherweise geht Salomos Assoziation mit Ameisen auf jenen Rat zurück, der im biblischen Buch der Sprüche an Faule ergeht: Es wird ihnen aufgetragen, sich das fleißige Verhalten der Ameisen anzusehen und ihrem Beispiel zu folgen. Sowohl jüdische als auch islamische Legenden sind reich an Geschichten über Salomos Weisheit, seine magischen Großtaten und seinen Umgang mit Tieren.
    Faszinierend an den frühen Kommentaren zum Koran ist die Leidenschaft der Autoren, auch noch das kleinste Detail im Text zu entdecken.
    Da jene Ameise, die ihre Artgenossen ermahnt, als sprechendes Wesen dargestellt wird, glaubten die Kommentatoren vermutlich, sie müsse einen eigenen Charakter und daher einen Eigennamen haben. Ihre Pflicht sei es daher, diesen zu finden. Sie überlieferten verschiedene Namen für diese Ameise. Einigen zufolge wurde sie Mundhira genannt - zu deutsch "Mahner", andere behaupteten, sie habe Takhiya oder Dscharmi geheißen.
    Heutzutage führt die Geschichte der sprechenden Ameise im Internet zu hitzigen Debatten zwischen christlichen und muslimischen Polemikern. Einige Muslime meinen, die moderne Wissenschaft bestätige den Koran, weil Ameisen ja tatsächlich kommunizieren könnten. Einige Christen wiederum halten dagegen, Ameisen kommunizierten nicht über Sprache sondern über Gerüche.
    Beide Seiten scheinen die Moral, die der Geschichte zugrunde liegt, gar nicht zu bemerken: nämlich dass selbst mächtige Könige von winzigen Tieren lernen können.
    Bei der Audioversion handelt es sich um eine aus Gründen der Sendezeit leicht gekürzte Fassung dieses Textes.