Dienstag, 16. April 2024

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Sure 30 Vers 22
Gesellschaftliche Pluralität als Zeichen Gottes

Menschen unterscheiden sich nach Sprache, Hautfarbe, religiöser Überzeugung und mehr. Der Koran erkennt diese Verschiedenheit nicht nur an, er gibt sie quasi vor. Denn islamisch gesehen ist alles plural – außer Gott.

Von Dr. Mahmoud Abdallah, Universität Tübingen | 14.09.2018
    "Und zu seinen Zeichen gehören die Schöpfung der Himmel und der Erde und die Verschiedenheit eurer Sprachen und Farben. Hierin sind wahrlich Zeichen für die Wissenden."
    Die Rede von einer pluralistischen Gesellschaft ist heutzutage in aller Munde. Wie der Islam zur Pluralität steht, lässt sich unterschiedlich beantworten.
    Die Sendereihe Koran erklärt als Multimediapräsentation
    Sure 30 Vers 22 gibt hier eine mögliche Antwort: Pluralität gehört zu den Zeichen Gottes. Der Vers erscheint in einem Kontext, in dem von den verschiedenen Zeichen Gottes - arabisch: âyât - sie Rede ist. Dabei wird unter anderem die Verschiedenheit der Menschheit betont, als wollte der Koran ein so wichtiges Zeichen an dieser Stelle nicht aussparen. Wir hören uns diese Koranpassage einmal im Zusammenhang von Vers 20 bis Vers 23 an: "Es gehört zu seinen Zeichen, dass er euch aus Erde erschaffen hat, hierauf wart ihr auf einmal menschliche Wesen, die sich ausbreiten. Und es gehört zu seinen Zeichen, dass er euch aus euch selbst Gattinnen erschaffen hat, damit ihr bei ihnen Ruhe findet; und er hat Zuneigung und Barmherzigkeit zwischen euch gesetzt. Darin sind wahrlich Zeichen für Leute, die nachdenken. Und zu seinen Zeichen gehören die Erschaffung der Himmel und der Erde und (auch) die Verschiedenheit eurer Sprachen und Farben. Darin sind wahrlich Zeichen für die Wissenden. Und zu seinen Zeichen gehören euer Schlaf bei Nacht und Tag und auch euer Trachten nach etwas von seiner Huld. Darin sind wahrlich Zeichen für Leute, die hören."
    Der tunesische Islamgelehrte Ibn ‘Âschûr, der im 20. Jahrhundert lebte, betrachtet die Verschiedenheit der Sprachen als Hinweis für die natürlich veranlagte Eigenschaft der Menschheit (arabisch: fitra), unterschiedlich zu sein. All jene Koranverse, die die "Verschiedenheit" thematisieren - es sind 35 Verse -, umfassen die natürliche Verschiedenheit des Universums und der Natur sowie die menschliche Verschiedenheit in Sprache, Hautfarbe, religiöser Überzeugung et cetera.
    Mahmoud Abdallah mit einer aufgeschlagenen Koran-Übersetzung in der Hand vor einem Bücherregal mit arabischen Büchern.
    Dr. Mahmoud Abdallah lehrt am Zentrum für Islamische Theologie der Universität Tübingen. (priv. )
    Die Aussagen dieser Koranstelle sind allgemein. Sie richten sich nicht spezifisch an Muslime, Araber oder religiöse Menschen, sondern sie sprechen die ganze Menschheit an. Die Rede von der Verschiedenheit ist mithin eine göttliche Botschaft gegen Diskriminierung – vor allem aufgrund von Ethnie oder Hautfarbe.
    Der Hinweis darauf, dass es mehrere Himmel und Erden gebe, dient als Einleitung für das Hauptthema "Verschiedenheit der Menschen". Die Unterschiede im Universum als Zeichen Gottes sind ein Appell zur Akzeptanz des Anderen, was Voraussetzung für ein friedliches Miteinander ist. Der Vers muss also pars pro toto verstanden werden. Pluralität im Koran reflektiert den soziographischen Raum und soll zum Nachdenken anregen und zur Bereicherung führen, nicht zu Diskriminierung und Missgunst.

    Der Abschlussteil mit den Worten "Zeichen für die Wissenden" hebt die Bedeutung von Bildung hervor. Bildung ist das Mittel, wodurch wir das Andere wahrnehmen, anerkennen und als Gottes Zeichen begrüßen können. Unwissenheit indes führt zu Unterdrückung. Darüber hinaus beschreibt der Abschlussteil das göttliche Gebot, Wissen zu erlangen. Denn so lassen sich die Zeichen von Gottes Existenz erkennen.
    Wer dementsprechend die Pluralität unterdrücken möchte, versucht nicht nur, Zeichen Gottes auszublenden, sondern ist auch von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Denn islamisch gesehen ist alles plural – außer Gott. Nur Gott ist einer. Diesen Zusammenhang bringt der Koran in Sure 11 Vers 118 zum Ausdruck. Dort heißt es: "Und wenn dein Herr wollte, hätte er die Menschen wahrlich zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Aber sie bleiben doch uneinig".