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Sure 5 Vers 32
Kain und Abel und das Töten heute

Kain, der neidische Ackerbauer, erschlägt seinen Bruder Abel. Die bekannte Geschichte des Bruderzwists wird auch im Koran erzählt - allerdings anders als in der Bibel. In der arabisch-islamischen Kultur wurde das Motiv dann bis in die Gegenwart kreativ weiter benutzt und zur moralischen Bewertung des Tötens herangezogen.

Von Prof. Dr. Sebastian Günther, Universität Göttingen | 15.09.2017
    "Einen Menschen zu töten, ohne dass dieser einen Mord oder eine Gewalttat im Lande begangen hat, ist als ob die Menschheit insgesamt getötet würde. Doch einem Menschen das Leben zu erhalten, ist genauso, als ob die ganze Menschheit gerettet wird."
    Dieses göttliche Gebot zum Schutz des menschlichen Lebens findet sich in Kapitel 5 des Korans. Es ist eine Sure, die sich der Rechtmäßigkeit beziehungsweise Unrechtmäßigkeit bestimmter Handlungen widmet. Zahlreiche Erzählungen aus der biblischen Schöpfungs- und Heilsgeschichte bekräftigen hier die menschliche Verpflichtung, Gottes Gesetze zu achten.
    Die Sendereihe Koran erklärt als Multimediapräsentation
    Zudiesen Schilderungen gehört auch die Geschichte von Kain und Abel, den Söhnen von Adam und Eva, dem ersten Menschenpaar. Diese Erzählung geht dem Koranvers zum Tötungsverbot unmittelbar voraus und kulminiert in ihm.
    Wie in der Bibel, so ist es auch im Koran der jüngere Kain, ein Ackerbauer, der den älteren Bruder Abel, den Hirten, aus persönlichem Neid und aus Ungehorsam gegenüber Gott erschlägt.
    Sebastian Günther
    Prof. Sebastian Günther lehrt an der Uni Göttingen. (priv.)
    Die Darstellung zu Kain und Abel im Koran weist allerdings einige Unterschiede zu ihrem biblischen Gegenstück auf:
    (1.) So sagt Abel im Koran ausdrücklich, dass er sich nicht verteidigen werde und dass sein Schicksal in Gottes Hand liege. Die Seele Kains hingegen drängt diesen, den Mord zu begehen. Diese Veranlagung Kains wird im Koran als geradezu schicksalhaft dargestellt.
    (2.) Außerdem führen der Koran und die mittelalterlichen muslimischen Gelehrten die Geschichte nach Abels Tod weiter: Kain trägt seinen toten Bruder tagelang mit sich herum, bis er von dieser Last durch einen Raben, dem altarabischen Sinnbild für den Tod, erlöst wird.
    Damit ist Kain im islamischen Verständnis nicht einfach nur ein Mörder, sondern ein Mensch, der auch tiefe Trauer und sogar Reue wegen seiner Tat empfindet.
    Durch die erzählerische Verknüpfung von individuellen menschlichen Handlungen mit universellen Lebensmustern besitzen diese und die zahlreichen anderen "biblischen Erzählungen" im Koran in hohem Maß Lehr- und Vorbildcharakter.
    Interessanterweise wird das Ur-Motiv des Bruderzwistes in vielen arabischen Märchen sowie in der modernen arabischen Literatur weiterentwickelt. So verfasste beispielsweise der ägyptische Nobelpreisträger für Literatur, Nagib Machfus, im Jahr 1959 einen Roman mit dem Titel "Die Kinder unseres Viertels". Es ist ein Buch, das Episoden aus der Offenbarungs- und Heilsgeschichte in brillanter Weise literarisch verarbeitet.
    Auch das Motiv von Kain und Abel begegnet uns hier, wobei die moralische und die psychologische Interaktion der ungleichen Brüder im Vordergrund steht: Die Romanfigur des Abel verkörpert menschliche Tugenden und Rechtschaffenheit, ja den Idealtypen des Menschen überhaupt. Kain wiederum ist – wie schon im Koran – eine komplexe Figur, die sowohl für die Leidenschaften als auch die Unzulänglichkeiten des Menschen steht.
    Die zentrale Aussage des Kain und Abel-Motivs im Koran und in seiner kreativen Weiterführung in der arabisch-islamischen Kultur ist damit unverkennbar: es ist der eindringliche Aufruf, ethische Grundsätze strikt einzuhalten und menschliches Leben zu respektieren und zu schützen.