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Surreal und abgründig

"Naked Lunch" widmet sich der "Algebra des Verlangens" in vielen Varianten. "Junk" steht bei Burroughs sinnbildlich für alles, was besinnungslos begehrt werden kann, sei es Liebe, Macht oder Sex. Es steht für jedes totale Verlangen nach "Stoff". William Burroughs Buch wurde jezt neu übersetzt.

Von Wolfgang Schneider | 11.08.2009
    "In weißflimmernder Hitze hocken sie da, die Idioten, auf alten Knochen und Exkrementen und rostigen Eisenträgern bis zum Horizont. Völlige Stille - ihr Sprachzentrum ist zerstört -abgesehen vom Knistern der Funken und platzenden Brandblasen, während sie ihr Rückenmark von oben bis unten mit Elektroden bearbeiten. Weißer Rauch von angesengtem Fleisch hängt in der windstillen Luft. Einige Kinder haben einen Idioten mit Stacheldraht an einen Pfahl gefesselt und zwischen seinen Beinen ein Feuer entfacht; jetzt stehen sie da und schauen mit bestialischer Neugier zu, wie Flammen an seinen Schenkeln hochzüngeln. Im Feuer zuckt sein Fleisch in insektoiden Todesqualen."

    "Naked Lunch" widmet sich der "Algebra des Verlangens" in vielen Varianten. "Junk" steht bei Burroughs sinnbildlich für alles, was besinnungslos begehrt werden kann, sei es Liebe, Macht oder Sex. Es steht für jedes totale Verlangen nach "Stoff".

    Der Reiz des Buches besteht jedoch weniger in Burroughs hervorgekehrtem Drogen-Insidertum als vielmehr in den schräg-surrealen Szenerien, die sich den Jahren der Sucht mit ihren Enthemmungen, Ängsten und Entzugsdelirien verdanken. Burroughs steigert sie mit aller Lust am Makabren und Schockierenden zum globalen Panorama.

    Die beeindruckendste Gestalt des Buches ist Dr. Benway, ein monströser Mediziner und "Manipulator" von Symbolsystemen, Spezialist für Verhörtechniken, Gehirnwäsche und Kontrollpraktiken. Und ein skrupelloser Schlächter in burlesk entgleisten Operationsszenen. Massagen am offenen Herzen mit Gummisaugern für die Abflussreinigung und Blinddarmentfernung mit rostigen Sardinendosen gehören zu seinen Spezialitäten.

    Der Individualanarchist Burroughs betreibt klassische Amerika-Satire, fantasiert die "Amtsträger noch nicht errichteter Polizeistaaten" und klagt über Behörden, die sich wuchernd ausbreiten wie Krebsgeschwüre, allen voran das Rauschgiftdezernat. In Interzone gibt es neben merkwürdigen Parteien wie den Faktualisten, Divisionisten und Sendern eine "Islam AG". Deren satirische Beschreibung hat inzwischen sehr an Aktualität gewonnen:

    "Obwohl die Delegierten beim Einlass sorgfältig untersucht werden, enden diese Versammlungen nicht selten mit Tumulten. Die Redner werden schon mal mit Benzin übergossen und verbrannt, oder irgendein ungehobelter Scheich schießt seinen Gegner mit einer Maschinenpistole über den Haufen, die er in einem Spielzeugschaf versteckt hat. Unter die versammelten Konferenzteilnehmer mischen sich nationalistische Märtyrer, die irgendwann die Handgranate in ihrem Arsch zünden und so für erhebliche Verluste sorgen ... Und da gab es diese Geschichte mit Präsident Ra, der den englischen Präsidenten zu Boden warf und gewaltsam sodomisierte - ein Spektakel, das in der gesamten arabischen Welt im Fernsehen verfolgt werden konnte. Die wilden Freudenschreie waren noch in Stockholm zu hören."

    Er könne sich kaum an die Niederschrift des Romans erinnern, meinte Burroughs im drogenfreien Rückblick. Die Auffassung, er habe dieses Buch im Rausch geschrieben, ist - von einigen Suchtnotizen abgesehen - aber wohl eher eine Legende. Zumindest würde sie schlecht passen zu den Zustandsbeschreibungen, die der Roman selbst liefert: Der Süchtige könne ganze Tage regungslos auf seine Schuhspitzen starren; vor allem die Libido sei komplett abgeschaltet. Nun, das kann man von den manisch übererregten, von böser Lust besessenen Figuren des Romans gerade nicht behaupten. Hier kehren die Fratzen des Begehrens zurück.

    Burroughs hat das Obszöne an die äußerste Grenze getrieben. Der Unterschied zu den Unterleibsromanen jüngerer Zeit besteht allerdings im surrealen Charakter der Darbietung: Was der Erzähler von "Naked Lunch" notiert, sind keine Erlebnisse, die mit Authentizität punkten wollen. Die physiologische Überstimulation durch Drogen oder Entzug übersetzt sich in atemlose Beschreibungen von Orgien und Exzessen, die irgendwo zwischen Hieronymus-Bosch-Vision, Robert-Crumb-Karikatur und Special-interest-Porno angesiedelt sind. Henry Miller erscheint als Vorkämpfer bekömmlicher Triebabfuhr im Vergleich mit den phantasmagorischen Passagen homosexuellen Extremgenusses, wie sie bei Burroughs zu lesen sind. Manches ist da eine wirkliche Zumutung, wie die fixe Idee der finalen sexuellen Stimulation durch Genickbruch: einfach nur abgeschmackt. Burroughs wollte das später als Traktat gegen die Todesstrafe verstanden wissen. Naja.

    Bisweilen führt die Darstellung menschlicher Feuchtgebiete allerdings auch zu schönen Momenten von sehr spezieller Groteskkomik. Wie bei jener kleinen Parabel über einen Rummelplatz-Bauchredner, der seinem Arsch das Sprechen beibrachte:

    "Nach einer Weile fing der Arsch von selbst an zu reden. Der Mann ging auf die Bühne, ohne irgendwas vorbereitet zu haben, und sein Arsch improvisierte zu seinen Gags und spielte ihm den Ball zurück. ( ... ) Dann bildete das Arschloch kleine zahnähnliche, nach innen gebogene Raspelhäkchen aus und fing an zu essen. Der Mann fand das zunächst putzig und machte eine weitere Nummer daraus, aber irgendwann fraß sich das Arschloch durch seine Hose hindurch und fing an, auf der Straße zu reden und lauthals Gleichberechtigung einzufordern. Auch fing es an zu saufen und beklagte sich dann unter Tränen, dass es genauso geküsst werden wolle wie der andere Mund. Schließlich redete es ununterbrochen Tag und Nacht, und das Gebrüll des Mannes, es solle endlich den Mund halten, war straßenweit zu hören; er schlug mit der Faust nach ihm und steckte Kerzen hinein, was aber nicht half und das Arschloch sagte zu ihm: "Du bist derjenige, der am Ende den Mund halten wird. Nicht ich. Und zwar weil wir dich hier gar nicht mehr brauchen. Ich kann reden und essen und scheißen."

    Burroughs Cut-up Methode überträgt das Collage-Verfahren von der Kunst auf die Romanliteratur und bringt den Zufall als kreativen Faktor ins Spiel. Texte wurden "zerschnitten" und in ganz anderer Reihenfolge wieder zusammengesetzt. So kann man den Roman kreuz und quer lesen - kein Faden der Chronologie wird einem aus der Hand rutschen; es gibt keinen. Eine durchgehende Handlung hat das Buch nicht, allenfalls eine gewisse Rahmung durch die Flucht des Junkie-Agenten Lee, die in New York beginnt und über Mexiko nach Tanger und in die "Zone" führt.

    Einige Kapitel lesen sich in ihrem forcierten Patchwork-Charakter allerdings ziemlich angestrengt: ein Ragout aus rasant gemixten Szenen, zerstückelten Blicken und frei flottierenden Mini-Erzählungen. Die besten Kapitel sind die, die einer Erzähllogik folgen, mag sie noch so surreal sein.

    Als "ursprüngliche Fassung" präsentiert sich diese Ausgabe. Das klingt bei einem Werk dieses literaturgeschichtlichen Kalibers spektakulär und lässt Erwartungen sprießen. Schließlich war "Naked Lunch" kein organisch zur Endform gewachsener Roman, sondern ein wildes Textgewucher, das Burroughs mithilfe von Allen Ginsberg in wiederholten Anläufen und langen Arbeitssitzungen zu bändigen versuchte. Angesichts der kompliziert-verwirrenden Textlage, über die im Nachwort zu lesen ist, erscheint eine Rückkehr zu früheren Textstufen vielversprechend.

    Um so mehr stutzt man, wenn die "ursprüngliche Fassung" fast wie die alte daherkommt. Tatsächlich liegt die übliche Grove-Fassung auch dieser Ausgabe zugrunde, und nach Eingriffen in den Romantext muss man suchen. Kurz: Diese "ursprüngliche Fassung" tendiert in Richtung Mogelpackung. Es ist ein "naked lunch" der anderen Art, auch wenn am Ende auf der Gabel noch ein paar "Outtakes" stecken, aufgegebene Passagen, Ergänzungen oder alternative Versionen, im Ganzen wenig spektakulär.

    Allerdings hat die deutsche Ausgabe doch ein massives Verdienst: die sehr gelungene Neuübersetzung von Michael Kellner, die zu Recht für den Leipziger Buchpreis nominiert wurde. Burroughs Sprache ist vielschichtig und elaboriert - eine harte Nuss für Übersetzer, denn mit wörtlicher Genauigkeit allein ist es hier nicht getan. Vielmehr gilt es, eine Sprachmusik nachzukomponieren. Das ist Kellner gelungen. Erst in seiner Übersetzung wird deutlich, dass "Naked Lunch" stilistisch einer deutlichen Spur folgt: der delirierenden Prosa Louis Ferdinand Celinés, mit ihrer entwaffnenden Direktheit, ihrem antimoralischen Furor, ihrer wohlgepflegten Bosheit.

    Die Slang- oder Szeneausdrücke sind im Deutschen schneller gealtert als die Originale. "Rauschgiftpolyp" klingt heute ebenso merkwürdig wie "Warmer"; ganze Sätze können durch derartige Missklänge zerstört werden. Jetzt liest man "Rauschtgiftbulle" und "Tunte". "Protoplasma-Daddy" klingt besser als "Protoplasmaväterchen", und gefangenen genommene "Replikanten" sind für jeden Leser, der schon mal ein paar Science-fiction-Filme gesehen hat, etwas anderes als "gefangene Ableger". Vor allem aber wird in der Neuübersetzung die Komik von Burroughs endlich angemessen vermittelt. Warum der Autor von Jack Kerouac als "größter Satiriker seit Swift" gefeiert wurde, können deutsche Leser erst jetzt erfahren.

    William S. Burroughs: Naked Lunch. Die ursprüngliche Fassung. Herausgegeben von James Grauerholz und Barry Miles. Aus dem Englischen von Michael Kellner. Verlag Nagel & Kimche, München 2009. 378 S., 24,90 Euro