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Surrealer Klassiker als Hörbuch

Die 82-jährige Schauspielerin Rosemarie Fendel liest Leonora Carringtons "Hörrohr" und macht aus dem gedruckten Text, der sich allerlei Abschweifungen und Brüche erlaubt, ein literarisches Erlebnis. Fast könnte man meinen das Werk habe durch die Audio-Fassung erst zu seiner eigentlichen Bestimmung gefunden.

Von Florian Felix Weyh | 06.06.2008
    "Marian, kannst du mich hören?" Ich konnte in der Tat, es war fürchterlich. "Marian, kannst du mich hören?" Sprachlos nickte ich. "Dieses herrliche Hörrohr wird dein Leben verändern!" Schließlich sagte ich: "Um Himmels willen, schrei nicht so, du machst mich ganz nervös."
    "Ein Wunder", rief Carmella, immer noch sehr erregt, dann aber in etwas ruhigerem Ton: "Dein Leben wird einen anderen Lauf nehmen."

    Wahrlich! Denn mit dem Hörrohr, das die 92-jährige Marian Leatherby von ihrer Freundin Carmella geschenkt bekommt, bricht Unheil in ihre geruhsame und akustisch bislang abschirmte Altersexistenz ein. Ihr Sohn will sie ins Heim verfrachten, woraufhin sich die alten Damen in Widerstandsphantasien ergehen. Am besten bewaffnet man sich mit einer Maschinenpistole.

    "Maschinenpistolen", sagte Carmella, "sind das einfachste von der Welt. Du lädst sie mit einer Menge Kugeln und drückst auf den Abzug. Dazu sind keine intellektuellen Operationen nötig, du brauchst noch nicht einmal etwas zu treffen. Der Krach beeindruckt die Menschen, man glaubt einfach, weil du eine Maschinenpistole hast, bist du gefährlich."

    Doch so weit kommt es nicht, Marian Leatherby fügt sich den Gegebenheiten und zieht nach Santa Brigida, wo die "Bruderschaft der Quelle des Lichts" ein außerordentlich seltsames Seniorendomizil unterhält. Geleitet wird es von Dr. Gambit, einer Mischung aus religiösem Sektierer und Psychoanalytiker, dessen wöchentliche Sitzungen hauptsächlich aus erbaulichen Schleifen bestehen:

    "Wir streben danach, dem inneren Sinn des Christentums zu folgen und die Urlehre des Meisters zu verstehen. Sie haben diese Worte immer und immer wieder aus meinem Munde gehört, aber verstehen wir wirklich den inneren Sinn eines solchen Werkes? Denn ein Werk ist es, und ein Werk wird es bleiben!"

    ... und so weiter. Die greisen Anwesenden kann er damit kaum beeindrucken, befinden sich die Damen doch allesamt unfreiwillig an diesem Ort. Das schafft nicht gerade eine gewogene Atmosphäre für fromme Sprüche, eher eine sarkastische Grundstimmung:

    "All diese Weiber, es ist einfach erbärmlich. Der Platz wimmelt derart von Ovarien, man möchte schreien. Ebenso gut könnten wir in einem Bienenstock leben."

    Das ist Santa Brigida beinahe auch, nur mit einem Bienenkönig an der Spitze, der sich vorzüglich als Adressat von Denunziationen eignet:

    "Georgina Sykes ist ein obszönes altes Weib", sagte Natascha salbungsvoll. "Sie hat nur Sex im Kopf und eigentlich dürfte sie überhaupt nicht mit den anderen Mitgliedern der Gemeinschaft verkehren. Sie vergiftet die Gemüter."

    Die erst 82-jährige Rosemarie Fendel kostet, wie man den Einspielungen anhören kann, das ganze tonale Spektrum aus, wenn sie den Figuren des surrealen Klassikers "Das Hörrohr" ihre Stimme leiht. Mühelos verwandelt sie Leonora Carringtons phantastischen Roman in ein literarisches Erlebnis aus einem Guss, was sich keineswegs von selbst versteht, denn die Buchvorlage erlaubt sich mannigfaltige Brüche und erzählerische Abschweifungen. Um rund ein Viertel gekürzt tut dem Hörbuch die Entschlackungskur so gut, dass man beim Blick in den gedruckten Text den Eindruck gewinnt, hier läge eine wohl noch unlektorierte Fassung vor. Vielleicht hat das "Hörrohr" mit dem neuen Medium erst zu seiner endgültigen Form gefunden, und es ist gar nicht tragisch, dass man die Buchausgabe derzeit nur antiquarisch erwerben kann. Denn Leonora Carringtons bizarre Geschichte über ein Dutzend uralter Damen beschränkt sich beileibe nicht auf die Schilderung eines satirisch überzeichneten Seniorenheims, sondern endet in Weltuntergang und Apokalypse, und das nimmt sich gehört glaubwürdiger aus als gelesen - vielleicht weil in der oralen Literaturtradition Übertreibungen stets dazugehören.

    "Alle Länder und Meere wurden durch Erdbeben erschüttert, die so heftig waren, dass kein Haus, keine Burg, keine Hütte oder Kirche stehenblieb. Dem Ereignis gingen tagelanger Schneefall und Dunkelheit voraus. In manchen Gebieten gab es heftige Gewitter und Regen, der zu Eis erstarrte, als er vom Himmel fiel. Regenspeere, groß wie Wolkenkratzer, standen steif über dem Schnee. An einigen Stellen loderte Feuer aus der Erde und am Himmel wurden seltsame Zeichen gesehen."

    Hier schließt sich der Kreis zu Dr. Gambits religiösen Spintisierereien, während das Hörrohr, mit dem der Roman angefangen hat, im Verlauf erzählerisch abhanden kommt. Wer auf strenge Logik Wert legt, ist für diese Art von Literatur ohnehin verloren, zum Schluss wird es ganz obskur, mit Werwölfen und allerlei archaischem Getier. Doch auf Logik kommt es bei diesem Buch nicht an, es ist aus einem ganz anderen Grund zum Kultklassiker geworden. Marian Leatherby alias Rosemarie Fendel bringt ihn auf den Punkt:

    "Ich bilde mir ein, dass ich recht amüsant erzählen kann, wenn ich will. Natürlich nichts Vulgäres, aber witzig und - wenn mich nicht gerade mein Rheumatismus zu sehr plagt - sogar etwas pikant."

    Leonora Carrington: "Das Hörrohr"
    Gelesen von Rosemarie Fendel
    4 CDs, Hörbuch Hamburg, 281 Minuten