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Susan Neiman: "Warum erwachsen werden"
Warnruf und philosophische Ermutigung zugleich

Peter Pans Unbehagen gegen das Erwachsenwerden teilen viele, so der Befund der amerikanischen Philosophin Susan Neiman. Mit ihrem Werk "Warum erwachsen werden" bietet sie nicht nur eine philosophische Ermutigung an, sondern warnt auch vor der Doktrin der planvollen Entmündigung in der heutigen Zeit.

Von Anja Hirsch | 15.02.2016
    Die US-Philosophin, Autorin und Leiterin des Potsdamer Einsteinforums, Susan Neiman am 27.05.2015 in Köln bei der dritten phil.COLOGNE, dem internationalen Festival der Philosophie
    "Erwachsen werden heißt, die Ungewissheiten anzuerkennen, die unser Leben durchziehen", schreibt die US-Philosophin, Autorin und Leiterin des Potsdamer Einsteinforums, Susan Neiman. (picture alliance / dpa / Horst Galuschka)
    Peter Pan ist der prominenteste Nicht-Erwachsene. So prominent, dass auch die mittlerweile in Berlin lebende, amerikanische Philosophin Susan Neiman mit ihm als Portalfigur ihr Buch eröffnet: Peter Pans Unbehagen gegenüber dem Erwachsenwerden, so ihr Befund, teilten heute viele. Träume aufgeben, Grenzen akzeptieren - wer will das schon?
    Gegen diese resignative Sicht auf das Erwachsenwerden tritt ihr Buch an; keine neue Theorie, vielmehr ein locker geschriebener Essay, eine "philosophische Ermutigung". Denn, so betont sie, es braucht Mut dazu, um "richtig" erwachsen zu werden - "richtig" nämlich im Sinne von Kant, wie er es in seiner "Kritik der reinen Vernunft" formuliert hat: als Balanceakt. In Neimans Worten:
    "Mündigkeit ist Kants Metapher für seine eigene Philosophie, die uns die Weisheit verleihen soll, einen Mittelweg zu finden zwischen den beiden Möglichkeiten: alles, was man uns sagt, gedankenlos zu akzeptieren oder es blindwütig zu verwerfen. Erwachsen werden heißt, die Ungewissheiten anzuerkennen, die unser Leben durchziehen."
    Auch auf globaler Ebene lauert überall Abhängigkeit
    Kant sagte auch, dass dieses Ideal schwer umzusetzen ist in einer Welt, in welcher die Menschen möglichst unwissend gehalten werden, damit sie leichter lenkbar sind. In seinen Worten:
    "Nachdem die Vormünder ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperrten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen."
    Diese planvolle Entmündigung ist laut Susan Neiman - und damit steht sie nicht alleine - heute mehr denn je Doktrin. Munter nennt sie Beispiele. Die sozialen Netzwerke etwa empfindet sie als den "neunten Kreis der Hölle des 21. Jahrhunderts". Und auch auf globaler Ebene lauert überall Abhängigkeit:
    "Es kann kein Zufall sein, dass Europas mächtigster Politiker regelmäßig "Mutti" genannt wird, ebenso wenig wie es ein Zufall sein kann, dass die wichtigste Botschaft der Kanzlerin vor allem beschwichtigend ist: Macht ihr nur so weiter, Mutti kümmert sich schon um alles und hält euch Albträume wie griechische Schulden und spanische Arbeitslosigkeit vom Leibe."
    Eine Reise durch Philosophie und Prosa
    Nun hätte man wirklich sehr gerne gewusst, wie man das Erwachsenwerden in einer solchen Welt wieder attraktiver machen kann oder ob es Vorbilder gibt, an denen man sich orientieren sollte. Aber um es vorweg zu sagen: Da gibt es geeignetere Bücher wie zum Beispiel Harald Welzers Buch "Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand".
    Susan Neimans Buch hingegen ist eine Reise zu Philosophen von Platon bis Rousseau, zu Hannah Arendt und Friedrich Nietzsche; zu Psychologen wie Melanie Klein und Donald Woods Winnicott oder Nationalökonomen wie Otto Neurath oder Soziologen wie Herbert Marcuse. Auch Prosa wie "Das Bildnis des Dorian Gray" inspiriert die Autorin. Und genau in diesem "Sammelsurium" an Quellen, wie sie es selbst nennt, liegt auch ein Problem ihres Buches. Sie springt mal hierhin, mal dorthin. Nicht immer ist deutlich, wo sie hin will.
    Das beginnt schon mit dem ersten großen Teil des dreigegliederten Buches: "Historische Hintergründe". Statt, wie erwartet, einen diachronen Abriss zu liefern, stellt sie gleich zu Beginn infrage, ob ihr eigenstes Analysewerkzeug, die Philosophie, die eher Allgemeines formuliert, überhaupt helfen kann, das "Besondere" des Erwachsenseins zu fassen. Man werde schließlich überall anders erwachsen.
    Zum Beispiel in Samoa. Bevor es dort Schulen gab, hatten heranwachsende Mädchen jüngere Geschwister zu hüten. Dieses Beispiel zeigt Neimans Vorgehensweise: Sie klopft ihr Material darauf ab, ob es unsere Perspektive neu einstellen hilft. Den mütterlichen Mädchen und auch Jungen von Samoa gewinnt sie Positives ab:
    "Dennoch ist klar, dass samoanische Kinder etwas hatten, was unseren Kindern fehlte: die Erfahrung, einen sinnvollen Beitrag für die Gemeinschaft zu leisten. Unsere Kinder spielen mit Autos oder einem Puppenservice und ahmen damit Aufgaben nach, die sie als Erwachsene übernehmen werden."
    Positionslosigkeit zieht sich durch das ganze Buch
    Befindet man sich aber nicht gerade in einem Kapitel über "historische Hintergründe"? Wieso dann geografische Vergleiche? Und ist es nicht eigentlich eine Binsenweisheit, dass in den verschiedenen Gesellschaften anders erzogen wird? Zwar formuliert Neiman im Anschluss gleich selbst die naheliegenden Einwände gegen eine solche Erwachsenen-Kindheit, die nicht Bildung, sondern Fürsorge für jüngere Geschwister in den Mittelpunkt stellt.
    Aber dieses ständige Hin- und Herdenken führt zu einer Positionslosigkeit, die sich durch das ganze Buch zieht. Statt gut gegliedert Für und Wider einer empirischen Studie oder einer Theorie aufzuzeigen und die Ergebnisse im Schlusskapitel für die eigene Position fruchtbar zu machen, münden ihre Beispiele in Allgemeinsätze dieser Art:
    "Den Verstand eines Kindes zu haben konnte nicht dasselbe sein in einer Zeit, die noch nicht die Bedeutung der Erziehung hervorhob oder die Kinder in neuen, als Schulen bezeichneten Institutionen von den Erwachsenen trennte."
    Dann wäre es umso wichtiger, den Untersuchungsgegenstand, das Erwachsen-Werden, zu definieren. Es ist begrüßenswert, wenn eine Philosophin anspruchsvollen Stoff in eine leicht verständliche Sprache übersetzt und deren Anwendbarkeit überdies an Beispielen aus der heutigen Zeit demonstriert. Aber Susan Neimans Aufzeigen von Widersprüchen machen ihren Text an vielen Stellen beliebig und plakativ.
    Streitschrift für Diskussionen um das Erwachsenwerden
    Überzeugend hingegen ist Susan Neiman, wenn sie die Philosophen befragt. Jean-Jacques Rousseau etwa liest sie neu und genau. Kann man seinem ungewöhnlichen Modell, das er in seinem Buch über die Erziehung eines fiktiven Jungen namens "Emile" vorstellt, nicht doch etwas abgewinnen? Neimans eigene Tipps als Abwehrzauber gegen den von ihr diagnostizierten schlechten Ruf des Erwachsenwerdens lesen sich dagegen eher wie Ratgeberliteratur.
    Sie empfiehlt, viel zu reisen, aber nicht im Kokon, sondern in Konfrontation mit dem uns Fremden. Nicht in Räumen aufhalten, wo ich die Klügste bin. Die Klassiker lesen und das Internet begrenzen. Das hat man woanders schon differenzierter gelesen. Wozu also kann dieses Buch dennoch dienen? Als Streitschrift für Diskussionen um das Erwachsenwerden bietet es viel Material. Immer wieder arbeitet die Autorin heraus, dass wir eine falsche Vorstellung von "Reife" entwickelt haben, mit der wir uns nicht einfach abfinden sollten.
    Noch vor der philosophischen Ermutigung ist ihr Buch als Warnruf gemeint. Den braucht es dringend in einem von Fernsehserien überschwemmten, immer mehr überwachten Alltag, in welchem die Passivität, nach Kant einer der schlimmsten menschlichen Triebe, überhandnimmt.

    Susan Neiman: "Warum erwachsen werden? Eine philosophische Ermutigung".
    Aus dem Englischen von Michael Bischoff.
    Hanser Berlin, Berlin 2015, 240 Seiten, 19,90 Euro.