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Swetlana Alexijewitsch: Tschernobyl - Eine Chronik der Zukunft

"Als der Reaktorblock explodierte, sind die Menschen auf die Balkone hinausgetreten mit ihren Kindern und haben das Feuer bewundert", erzählt Swetlana Alexijewitsch. "Am Himmel war ein einzigartiges himbeerfarbenes Leuchten zu sehen. Später mußten die Soldaten die Menschen mit Gewalt aus ihren Häusern schleppen. Die Sonne schien, die Blumen begannen schon zu blühen - und sie sollten evakuiert werden! Sie warfen sich vor den Soldaten auf die Knie, flehten sie an. Es waren Bauern, sie lebten völlig patriarchalisch. Viele erzählten mir, daß sie vor dem Unglück unmittelbar an den Wänden des Reaktors Pilze gesammelt hätten. Selbst das Akademiemitglied Alexandrow, der Vater dieser Kraftwerke, hatte gesagt, daß man ein Atomkraftwerk auf dem Roten Platz an den Kremlmauern erbauen könne. Damals habe ich verstanden, daß die Menschheit prinzipiell darauf nicht vorbereitet war, niemand."

Barbara Lehmann | 30.03.1998
    Drei Jahre lang reiste die Minsker Journalistin Swetlana Alexijewitsch durch Weißrussland und die Ukraine und befragte Opfer und Betroffene der Tschernobyl-Katastrophe. Am Ende ihrer Reise durch hochverstrahltes totes Terrain litt die Weißrussin selbst an einer Gesichtslähmung und mußte lange behandelt werden. Die Interviewaussagen von Sterbenden, monströs angeschwollenen Liquidatoren und dahinsiechenden Soldaten, von verzweifelten Witwen, Müttern und Kindern, von Zwangsevakuierten und illegalen Rückkehrern, von hochdekorierten Wissenschaftlern und Bauern komponierte sie zu einem kunstvollen Tryptichon der Stimmen, zu eindringlichen Monologen über die seelischen Folgen der größten technologischen Katastrophe unseres Jahrhunderts, deren Auswirkungen nicht nur im Osten, sondern auch bei uns im Westen gleichermaßen verdrängt werden. Denn betroffen von dem Reaktorunfall im April 1986 sind keineswegs nur, wie wir es uns gerne suggerieren, die Ukraine und das kleine Weißrussland, wo jeder fünfte - immerhin 2,1 Millionen Menschen, darunter 700 000 Kinder - auf verstrahltem Gebiet lebt und die radioaktive Strahlung die häufigste Todesursache ist. Der damals in panischer Eile mit einem provisorischen Stahlbeton-Mantel verkleidete Reaktor 4 birgt 20 Tonnen Kernbrennstoff. Experten vermuten, daß sie stellenweise bereits heute entweichen. Und der Sarkophag steht keineswegs am Rande, sondern im Zentrum Europas! Doch Swetlana Alexijewitsch geht es nicht um die Enthüllung teils zugänglicher, teils bis heute totgeschwiegener oder noch nicht erkannter Fakten, sondern um eine "Rekonstruktion des Gefühls". Wie schon in ihren früheren Büchern über Afghanistankämpfer und Selbstmörder entwirft sie die seelische Topographie des untergegangenen Sowjetreiches, dessen politischer Kollaps von der Atomexplosion zweifellos beschleunigt wurde. Jeder Monolog des Buches dokumentiert eindringlich das Unvermögen, eine angemessene psychische Reaktion auf diese Katastrophe von kosmischen Ausmaßen zu finden, die nicht nur konkret die umliegende bäuerliche Welt bis auf ihre sozialen Grundfesten zerstörte, sondern auch mental den geschichtlichen und geistigen Erfahrungshorizont sprengte.

    "Die Menschen haben nicht begriffen, daß sie sich in einem lebensgefährlichen Strahlungsfeld befanden", so Alexijewitsch. "Sie nahmen Zuflucht zum Bekannten, verglichen es mit dem Krieg. Hunderttausende von Soldaten und Offizieren, Militärhubschrauber und Kriegstechnik befanden sich am Reaktor. Doch niemand begriff, daß man die Strahlung nicht mit Panzern bekämpfen könne. Tschernobyl hat die Welt der technischen Allmacht , des guten sowjetischen Atoms völlig zerstört. Wir Weißrussen leben jetzt in diesem teuflischen Tschernobyl-Laboratorium. In Weißrussland erstreckt sich über Hunderte von Kilometern tote Erde. Wir haben erlebt, was noch nie jemand erlebt hat. Ich formuliere das für mich so: Der dritte Weltkrieg hat stattgefunden. Auf dem Territorium Weißrusslands, in seiner Erde, liegen 300 Bomben, und jede einzelne hat die Sprengkraft der Hiroshima-Bombe. Die Menschen leben in einer Situation wie nach dem dritten Weltkrieg. Die Weißrussen sind wie Flugschreiber, die man nach einem Absturz findet und auf denen die Daten des Fluges verzeichnet sind. Die Weißrussen haben das aufgezeichnet, was mit dem Menschen geschehen wird, wenn es zur atomaren Katastrophe kommt."

    Eine Chronik der Zukunft nennt Swetlana Alexijewitsch ihr Buch. Doch zunächst führt es uns in eine längst versunken geglaubte, bäuerlich-archaische Zone, deren Verhaltensmuster und Gefühlswelt uns zutiefst fremd anmuten: Nihilismus und Fatalismus, Naivität und Apathie sind vorherrschend, geschlechtspezifisch variiert als Opfertum und Demut bei den Frauen, Draufgängertum und Heroismus bei den Männern. Die damalige sowjetische Nomenklatura benutzte diese Skavenmentalität, indem sie das gefügige Menschenmaterial skrupellos in den so deklarierten "Krieg aller Kriege warf ", "dahingeschleudert wie Sand auf den Reaktor", wie ein Soldat sagt. Doch Swetlana Alexijewitschs Buch verengt sich nicht auf wohlfeile antisowjetische Polemik. Vielmehr nimmt sie die "Katastrophe der russischen Mentalität" ins Visier. Eine Ingenieurin bringt die mystische Leidenskultur des slawischen Volkes schlicht auf den Punkt: "Das ist auch eine Art von Barbarei: fehlende Angst um sich selbst."

    In der phantastischen Zone der Zukunft, in der diese Menschen heute leben, dauert diese Unfähigkeit zu selbstbestimmtem, selbstveranwortlichem Handeln fort: im Dulden des offiziell verordneten Schweigens, in Verdrängung und Selbstlüge. Für viele Interviewten war die weißrussische Journalistin die erste Person, mit der sie über die einschneidenden psychischen und physischen Folgelasten der radioaktiven Strahlungen sprechen konnten. Die Impotenz vieler ehemaliger Katastrophenhelfer ist in diesem Landstrich ohne psychotherapeutische Gesprächs- und zivile Protestkultur kein Thema. Schlimmer noch: In den radioaktiv verseuchten Sperrzonen haben sich Aussiedler aus fernöstlichen Krisenzonen angesiedelt. Für sie, die ihre sowjetische Heimat verloren, bietet die Gegend von Tschernobyl mit ihren verlassenen Siedlungen ein neues Zuhause. Doch die friedliche Kulisse einer scheinbar intakten Natur trügt. Die Zeichen der Zukunft sind offenkundig, doch alle verschließen die Augen. Dabei hat der schleichende Tod, wie eine der wenigen Sehenden sagt, "bereits unser Blutbild, unseren genetische Code, die Landschaft verändert."

    In Weißrussland unter dem diktatorischen Regime Lukaschenkos darf Swetlana Alexijewitschs Buch bislang nicht erscheinen. Bei der Leipziger Buchmesse hat sie Ende März den Buchpreis zur europäischen Verständigung erhalten. Ihrer warnenden Chronik der Zukunft sind zumindest hierzulande viele Leser zu wünschen.