Donnerstag, 28. März 2024

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SWR Vokalensemble
Chormusik aus den Baltischen Staaten

Hier setzte das gemeinsame Singen einst fast revolutionäre Kräfte frei: im Baltikum. Eine neue Porträt-CD des Vokalensembles des Südwestrundfunks stellt die Musik der baltischen Länder vor. Damit steht sie in einer Reihe mit den vorherigen Aufnahmen, die einzelne Länder vorgestellt haben.

Am Mikrofon: Klaus Gehrke | 23.08.2020
    Das SWR Vokalensemble steht auf der Bühne und singt in lila Bühnenlicht getaucht
    Spezialisiert auf internationale moderne Chormusik: das SWR Vokalensemble (imago/Gustavo Alabiso)
    Musik 1: Veljo Tormis - "Zwei Lieder", dar.: Nr. 2
    Lieder über Heimat oder Vaterland zu singen und damit nicht die Sowjetunion zu meinen, konnte für Esten, Letten und Litauer bis zum Ende der 1980er Jahre nicht nur Gefängnis und den Verlust der Arbeitsstelle, sondern auch die Deportation nach Sibirien bedeuten. Immerhin gehörten die drei baltischen Staaten nach ihrer gewaltsamen Annektion im Zweiten Weltkrieg als Teilrepubliken zur UdSSR. Doch ab 1988 formierte sich im Baltikum wachsender Widerstand, der als "Singende Revolution" in die Geschichte einging und letztlich den drei Staaten ihre Unabhängigkeit brachte.
    Geistliche Musik als Widerstand
    Die sieben baltischen Komponistinnen und Komponisten, von denen das SWR Vokalensemble Werke für diese CD ausgewählt hat, haben alle die Ereignisse zwischen 1988 und 1991 miterlebt. Die Jüngste von ihnen, die Litauerin Justė Janulytė war damals noch ein Kind, der Este Veljo Tormis um die 60 Jahre. Seine zwei Lieder für Chor à cappella nach Texten von Ernst Enno, von denen gerade ein Ausschnitt aus dem zweiten erklang, entstanden 1998. Tormis, der Sohn eines evangelischen Kantors, widmete sein Schaffen fast ausschließlich der Vokal- und insbesondere der Chormusik. Vor allem griff er in seinen Werken auf traditionelle Melodien der verschiedenen Regionen Estlands sowie auf Texte estnischer Dichter zurück. Beides führte dazu, dass Tormis‘ raffinierte und sehr anspruchsvolle Chorkompositionen von der sowjetischen Kulturpolitik überaus misstrauisch beobachtet wurden.
    Das galt auch für geistliche Werke: Zwar war die Religionsausübung in den drei baltischen Staaten generell nicht verboten. Da diese aber zur Sowjetunion gehörten, versuchte die Moskauer Zentralregierung, auch dort ihren atheistisch geprägten Kurs durchzusetzen. Wer aus einem christlich geprägten Elternhaus stammte und als Pfarrersohn oder Organistinnentochter Musik studieren wollte, hatte es mitunter schwer, einen Studienplatz zu bekommen oder die komponierten Werke aufzuführen.
    Die 1939 geborene lettische Komponistin Maija Einfelde hat in dieser Hinsicht vermutlich auch ihre Erfahrungen gemacht. Die Tochter eines Orgelbauers und einer Organistin unterrichtete nach dem Kompositionsstudium zunächst an verschiedenen Musikschulen des Landes und schrieb unverdächtige Instrumentalwerke. Erst mit der Erhebung Lettlands gegen die Sowjetunion begann sie, auch geistliche Musik zu komponieren. Auf der CD ist Maija Einfelde mit drei Chören nach Texten des lettischen Dichters Fricis Bārda vertreten. Ihre 2005 vollendeten Stücke weisen ein dichtes Satzgeflecht in freier Tonalität auf. Dabei stehen sich mitunter clusterhaft übereinander geschichtete harmonische Blöcke und zart lyrische Passagen gegenüber, wie etwa im dritten Stück "Himmel".
    Musik 2: Maija Einfelde - "Drei Chöre", dar.: "Himmel"
    Sowjetische Willkür hat auch Einfeldes Landsmann Pēteris Vasks miterlebt: Während der stalinistischen Säuberungsaktionen nach dem Zweiten Weltkrieg suchten Verfolgte Beistand bei seinem Vater, einem baptistischen Pfarrer. Ihm selbst wurde Ende der 1960er Jahre das Studium an der Lettischen Musikakademie mit der Begründung verwehrt, als Predigersohn sei er kein Sowjetmensch. Vasks ließ sich nicht beirren und studierte Kontrabass und Komposition im litauischen Vilnius. Ab 1988 nahm er an der "singenden Revolution" gegen die UdSSR teil und beschäftigte sich danach immer wieder mit der Geschichte seines Landes während der Sowjetzeit. Die Ballade "Litene" für zwölfstimmigen Chor entstand 1993 und thematisiert das Massaker des sowjetischen Geheimdienstes an über 1000 lettischen Offizieren im Sommer 1941. Den dramatischen Text des Lyrikers Uldis Berzins setzt Pēteris Vasks in einer packend stimmgewaltigen und unkonventionellen Komposition um.
    Musik 3: Pēteris Vasks - "Litene" (Ausschnitt)
    Sensible, farbreiche Interpretation
    Das SWR Vokalensemble, das unter der Leitung seines langjährigen Chefdirigenten Marcus Creed einen Ausschnitt aus der Ballade "Litene" von Pēteris Vasks sang, kennt sich in Sachen Neuer Musik bestens aus. Seit seiner Gründung 1946 hat es bis heute über 250 Chorwerke uraufgeführt und damit oft eine erstaunlich große Palette an stimmlichen Fähigkeiten demonstriert. Zwar dürften diese bei den hier eingespielten Werken vielleicht nicht ganz so gefordert sein wie in anderen Kompositionen der zeitgenössischen Avantgarde. Dennoch gehen Chor und Dirigent mit großer Sensibilität an die Interpretation der Stücke.
    Feinste Farbschattierungen und Klangnuancen sind beispielsweise in "Plonge" für Violoncello und zwölf Stimmen gefordert; komponiert wurde das Stück 2015 von der Litauerin Justė Janulytė. Sie ist die jüngste der auf der CD versammelten Komponistinnen und Komponisten. Justė Janulytė, die seit 2007 in Mailand lebt, wählte für ihr Stück eine Zeile aus dem Gedicht "Der Mahner" aus Charles Baudelaires "Fleurs du mal". Bei der musikalischen Umsetzung ging es ihr darum, die Klangfarben in einer sehr homogenen Textur zu vermischen und zu verschmelzen. Darüber hinaus wird der Text bis zur Unkenntlichkeit gedehnt. Schließlich verlangsamt sich das Stück mit dem anwachsenden Stimmspektrum und scheint letztlich zu erstarren.
    Musik 4: Justė Janulytė - "Plonge"
    Zwar spielt auch für die jüngere baltische Komponistengeneration, zu der Justė Janulytė gehört, die Auseinandersetzung mit den musikalischen Traditionen eine Rolle - wichtiger ist jedoch das Interesse an den aktuellen Entwicklungen der zeitgenössischen Avantgarde. In dieser Hinsicht gab es erheblichen Nachholbedarf, denn bis zum Zerfall der Sowjetunion waren westliche Strömungen verpönt und wurden, wenn möglich, unterbunden.
    Der Litauer Rytis Mažulis, Jahrgang 1961, hatte sein Kompositionsstudium in Vilnius gerade abgeschlossen, als der "eiserne Vorhang" fiel. Ende der 1990er Jahre erhielt er ein Stipendium der Stuttgarter Akademie Schloss Solitude. Mažulis, der 2004 den litauischen Nationalpreis erhielt, gehört zu den derzeit bedeutendsten Komponisten seines Landes. Seine Werke sind vom Minimalismus geprägt und weisen häufig Kanontechniken sowie konzentrische oder rückläufige Formen auf. 1998 widmete er dem britischen Hilliard Ensemble den "Canon solus". Das zunächst zweistimmig wirkende Stück fächert sich durch Imitationen des Kanonthemas, seiner Verkleinerung, Vergrößerung und Umkehrung zur Vierstimmigkeit auf – ein Prinzip, das Mažulis von Johannes Ockeghem, einem Meister der franko-flämischen Schule des 15. Jahrhunderts übernommen hat.
    Musik 5: Rytis Mažulis - "Canon Solus"
    Vielgestaltiges von Janulyte bis Pärt
    Selbstverständlich darf bei einer Zusammenstellung von Musik des Baltikums ein Werk von Arvo Pärt nicht fehlen: Pärt, der am 11. September seinen 85. Geburtstag feiert, zählt zu den weltweit bekanntesten Komponisten der Gegenwart. Seine ruhig-meditativen Werke faszinieren insbesondere bei Aufführungen in mittelalterlichen Kirchen. Pärt, der bei Heino Eller und Veljo Tormis in Tallinn studierte, hatte sich in den 1960er Jahren der seriellen Reihentechnik zugewandt. Nach einer schöpferischen Krise und einem Studium mittelalterlicher Musik entwickelte Pärt ab 1976 seinen so genannten "Tintinnabuli-Stil", der aus ruhig fließenden Melodien und wenigen Harmonien besteht. Der religiöse Charakter seiner Werke stieß bei sowjetischen Kulturbehörden auf Misstrauen und Ablehnung. Erst nach seiner Ausreise 1980 nach Wien erlangte Pärt internationales Ansehen.
    Nicht nur seine Werke, sondern auch die der anderen Komponistinnen und Komponisten des Baltikums verdienen aufgrund ihrer Vielschichtigkeit und Vielfältigkeit sowie des immer wieder interessanten Brückenschlags zwischen Tradition und Moderne eine größere Aufmerksamkeit. Wenn sie dazu so nuancenreich, sensibel und tiefgründig interpretiert werden wie hier vom SWR Vokalensemble unter Marcus Creed, dann ist das ein hochspannender Genuss.
    Musik 6: Arvo Pärt - "Und ich hörte eine Stimme" (Ausschnitt)
    Ein Ausschnitt aus "Und ich hörte eine Stimme" für gemischten Chor a cappella von Arvo Pärt, das 2018 entstand. Marcus Creed dirigierte das SWR Vokalensemble. Deren CD mit zeitgenössischer Baltischer Chormusik ist bei SWR Classics erschienen und wird vom Label Naxos vertrieben.
    Zeitgenössische Chormusik aus dem Baltikum
    SWR Vokalensemble; Ltg. Marcus Creed
    SWR Classics 747313908783
    Diese Sendung können Sie nach Ausstrahlung sieben Tage lang anhören.