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Symbolkraft von Stiefeln und Füßen

Beim Sturz des Stalin-Denkmals währende des Budapester-Aufstands im Herbst 1956 blieb nur das Stiefelpaar stehen. Peter Springer hat sich in seinem Buch mit der Wirkungsweise dieses Relikts beschäftigt und weitet das Thema zu einer Kulturgeschichte der Stiefel und Füße aus.

Von Andrea Gnam | 04.03.2013
    Nicht nur Menschen, auch Denkmäler - und ganz besonders, wenn sie an eine umstrittene historische Figur oder ein kriegerisches Ereignis erinnern sollen, altern. Bei einem Denkmal, so Peter Springer in seiner Studie "Stalins Stiefel", besteht der klassische Verlauf nicht selten in einem Dreischritt: Ein Denkmal wird errichtet, ein Denkmal wird gestürzt, ein Denkmal wird ersetzt. Mitunter soll in einer Art Überwindungsoptik das Gedächtnis an das vergangene, politisch nicht mehr tragbare Mahnmal getilgt und durch eine andere Interpretation überschrieben werden. Dies geschah schon früh im Fall der überlebensgroßen Stalinstatue in Budapest.

    Nur "Stalins Stiefel" waren als Überreste des Monumentaldenkmals auf dem Steinquader-Aufsatz stehen geblieben, nachdem die aufgebrachte Menge während des Budapester Auf-stands 1956 unter Einsatz von Zugseilen, Lastkraftwagen und Schweißbrennern den Koloss in einem symbolischen Akt vom Sockel gerissen hatte. Solch kollektiver Ikonoklasmus kommt zu allen Zeiten vor. Nicht selten werden, hier ebenso wie beim Fall der Berliner Mauer, Überreste des verhassten, zerstückelten Objektes an die Menge verteilt. Die Stiefel des Standbilds entgingen aus statischen Gründen der Zerstörung, sie waren separat zum übrigen Körper der Bronzestatue gegossen worden. Dieser standhafte Rest entbehrt nicht der unfreiwilligen Komik, wenn sich auch die Frage stellt, ob tatsächlich aus der Geschichte dieses Relikts nicht nur, wie zunächst geplant ein Essay, sondern gleich ein ganzes Buch werden muss.

    Über den symbolischen Gehalt der Diktatorenstiefel schreibt Springer:

    "Als Fragment erinnern sie an das, was fehlt, an die ehemals übermächtig aufragende Figur des Tyrannen, des Herrschers und Helden. (…) Wenn heute ausgerechnet die Stiefel vom Budapester Volksaufstand erzählen, dann vor allem, weil sie zum Denkmal eines Denkmals wurden, das bis heute nichts von seiner Identität stiftenden Wirkung verloren hat."

    Stiefel und Schuhe sind ein beliebter Statthalter für den ganzen Menschen und Springer schildert, wie sich manch ein Memorial ihre Symbolkraft dienstbar macht. So werden in Städten der USA von der Initiative "Empty Boots" für jeden im Irakkrieg umgekommenen Soldaten ein Paar schwarzer Armeestiefel auf öffentlichen Plätzen aufgestellt, in streng militärischer Formation. Oder eine bewegende Installation von Gyula Pauer zeigt entlang der Kaianlage von Budapest Schuhe aus Bronze, um an die von Faschisten ins Meer ge-triebenen Juden zu erinnern. Neben solch ephemeren Memorials, die gerade in ihrer Bei-läufigkeit Gewalt und die Absurdität des Krieges veranschaulichen, gibt es auch ironische Denkmäler, wie sie mit dem (unvollendet gebliebenen) Budapester Memento-Park ge-schaffen wurden.

    In diesem, wie Karl Schlögel es nannte, "Museum für kommunistische Altertümer" werden ausgemusterte, nachgebaute Monumente zu einem Stelldichein versammelt, in Moskau gibt es einen 700 Skulpturen umfassenden "Fallen Monument Park". Über die Budapester Anlage, die allein schon durch die Raumregie der einst monumentalen Wirkung, ja Überwältigung durch die Großskulpturen, entgegenarbeitet und damit die doch recht schlichten Inszenierungspraktiken politischer Herrschaft offenlegt, bemerkt Springer süffisant:

    "Charakteristisch ist der Eindruck einer leicht surrealen Verfremdung der hier ver-sammelten Skulpturen. Ihre Musealisierung und die dadurch ermöglichte respektlos nahe und genaue Betrachtung tun den meist auf Fernwirkung angelegten wuchtigen Bildhauer-werken nicht gut. Statt der Beseitigung des ästhetisch oft Unsäglichen hat man für die be-lasteten Skulpturen den Weg der De-bzw. Neukontextualisierung gewählt."

    Springer weitet das Thema zu einer, um diesen einen Stiefelträger zentrierten, Kultur-geschichte der Stiefel und Füße in der Kunst aus. Da ist die Rede von Gips-Modell-Füßen antiker Statuen - beliebt war zum Beispiel der Fuß des Apoll von Belvedere - die zur Künstlerausbildung in Akademien verwendet wurden. Er macht auf die Gewohnheit mancher Maler aufmerksam, ihre Signatur auf gemalte Statuenfüße zu setzten, die sie als Referenz an die Antike in ihre Tafelbilder eingebunden haben. Auch zeitgenössische Plastiken bedienen das Sujet, so der ins Riesenhafte vergrößerte Kickfuß Uwe Seelers, der in Hamburg zu bewundern ist. Von US-Präsidenten, die sich mit Familie vor den Füßen der Monumentalskulpturen ihrer Vorgänger, so Bush vor Lincoln, ablichten lassen, ist die Rede als einer modernen Form der Translatio Imperii, der Übergabe der Herrschaft über das Reich. Oder, wie Peter Springer es ausdrückt, der "Würdetransfer" wird hier bildlich fassbar. Vom gestiefelten Kater über die Siebenmeilenstiefel bis hin zu Karikaturen, die den Hitler-Stalinpakt als Werk zweier skrupelloser Stiefelträger in Szene setzen, wird aus der Geschichte politischer Symbole ein einziger großer Schuhschrank. Das ist ganz erhellend, manchmal etwas zu ausgewalzt, bisweilen amüsant.

    Nach der Lektüre der fast auf 200 Seiten angewachsenen Bemerkungen zu Stiefeln in der Politik geht es einem allerdings wie nach einem langen Fußmarsch: Man ist ermüdet, sie scheinen einem etwas eng geworden zu sein, die alten Stiefel und so ist man dankbar, dass man sie, nachdem sie ihren Dienst geleistet haben, ausziehen und zur Seite legen kann.

    Peter Springer: Stalins Stiefel. Politische Ikonographie und künstlerische Aneignung. Berlin 2012, Reimer Verlag, 183 Seiten, 35 Euro