Freitag, 29. März 2024

SYMPOSIUM 1914-2014
"Das im 20. Jahrhundert Erreichte kann nicht ein für alle Mal als gesichert gelten"

Andreas Meitzner, Sonderbeauftragter des Auswärtigen Amtes für die Gedenkveranstaltungen zum Beginn des Ersten Weltkriegs sagte, "außenpolitische Vernunft, weitsichtiges Handeln und verantwortungsvolle Diplomatie" seien unerlässlich. Nur so könnten auch in Zukunft Lehren aus 1914 gezogen werden.

Grußwort von Botschafter Andreas Meitzner | 05.04.2014
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    Andreas Meitzner vom Auswärtigen Amt: "Friede und Wohlstand in Europa sind heute keine Selbstverständlichkeit" (Thomas Kujawinski / Deutschlandradio)
    Grußwort von Botschafter Andreas Meitzner zur Veranstaltung des Deutschlandfunks "1914/2014 – ein europäisches Jahrhundert", 05.04.2014 in Köln
    Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
    sehr geehrter Herr Steul,
    sehr geehrte Damen und Herren,
    "1914 / 2014 - Ein europäisches Jahrhundert" – der lakonische Titel unserer heutigen Veranstaltung konzentriert sich auf eine ganz wesentliche Aussage: Das 20. Jahrhundert war im Guten und im Schlechten ein essenziell europäisches Jahrhundert. Am Ende hat es unserem Kontinent eine zuvor nicht für möglich gehaltene Kultur der Zusammenarbeit und Kooperation gebracht und den Weg in die Zukunft geöffnet. Angesichts der Opfer, die das Jahrhundert in seiner ersten Hälfte gefordert hat, ist dies Chance und Verpflichtung zugleich.
    Auch der Beginn des 20. Jahrhunderts kannte vielversprechende Momente. Noch Ende Juli 1914 konnte alles ganz einfach sein. Nur ein Beispiel: Damals hielt sich Harry Graf Kessler in London auf, er war unter anderem mit Auguste Rodin beteiligt an einer Inszenierung der Balletts Russes. Ein europäisches Kunstprojekt. Als Kessler und Rodin sich am Ende trennen, verabreden sie bereits das nächste Treffen. In diesem Moment glauben sie noch nicht, dass es tatsächlich zum Krieg kommt. Zu selbstverständlich war es 1914 für die Künstler und Intellektuellen Europas, frei zusammen zu kommen und zusammen zu arbeiten.
    Neutralität des kleineren Nachbarn mit Füßen getreten
    Doch wenige Tage später fand sich Kessler bei den deutschen Truppen in Belgien wieder. Das deutsche Kaiserreich hatte die Neutralität des kleineren Nachbarn mit Füßen getreten. Nicht genug mit diesem Rechtsbruch, begingen deutsche Soldaten in den ersten Kriegsmonaten unentschuldbare Verbrechen und Gräueltaten in dem überfallenen Land. Der unmenschliche Zynismus des "Rechts des Stärkeren" wird hier noch deutlicher als sonst in der Geschichte des Ersten Weltkriegs.
    Kessler reagierte darauf zunächst wie viele Intellektuelle seiner Zeit: Er übertrug Nietzsches Philosophie auf sein Erleben und wollte daran glauben, aus "Trümmern und Rauch neues Leben wachsen zu sehen".
    Sein Beispiel zeigt, mit welcher Naivität oder mit welchem Zynismus – die Einschätzung kann jeder für sich selbst treffen - dieser Krieg selbst dann noch unterschätzt wurde, als er bereits zur Tatsache geworden war. Erst der immer noch weiter ins Unermessliche gesteigerte Schrecken der nächsten Jahre brachte die Erkenntnis der ganzen Brutalität des Krieges – und die Erkenntnis, dass philosophische Sinnsuche hier nicht weiter half.
    Grausamkeiten ohne historisches Beispiel
    Was Intellektuelle im Sommer 1914 vielleicht noch nicht wirklich wissen konnten, haben manche Militärs und Diplomaten bereits geahnt und ahnen müssen. Die Grausamkeit des kommenden Krieges würde historisch ohne Beispiel sein. Ganze Völker würden direkt und indirekt in die Kriegführung einbezogen.
    Eine Konsequenz zog die Außenpolitik im Juli 1914 nicht. Man verharrte bei Verhaltensmustern des Wiener Kongresses und ließ sich aus der militärischen Planung vermeintliche Handlungszwänge diktieren. Nicht einmal das Wort "Vertrauensbildung" kannte man. Statt den Konflikt zu entschärfen, wurde eine politische Un-Kultur der Provokation gepflegt. Es ging darum, eigene, vermeintlich nationale Interessen auf jeden Fall und mit allen Mitteln durchzusetzen. Das mangelnde Bewusstsein für die Risiken und Folgen des eigenen Handelns – nicht zuletzt darin liegt ein wesentliches Element des Versagens der Diplomatie 1914.
    Europäische Union ist das historisch bedeutsamste Ergebnis
    Auch wenn es heute, in den Mühen der Brüsseler Kompromisssuche nicht immer so wahrgenommen wird: Das historisch bedeutsamste Ergebnis von diplomatischer und politischer Einsicht vor dem Hintergrund der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts ist die Europäische Union. An die Stelle der fragilen Politik des Gleichgewichts der Mächte ist eine europäische Rechtsgemeinschaft getreten. Heute gelten die Gebote von Kooperation und Konsens.
    Natürlich gibt es Kritik an den gemeinschaftlichen Institutionen. Zu behäbig seien sie, ein Konsens zwischen 28 Staaten ist oft nur mühsam zu erreichen. Befeuert durch Staatsschuldenkrise und Rezession machen sich europäische Erosionsprozesse bemerkbar. Wo, wie in vielen südlichen Ländern Europas, extreme Jugendarbeitslosigkeit um sich greift, bleibt bei vielen jungen Menschen ein dumpfes Gefühl der Perspektivlosigkeit zurück. Das Vertrauen in das europäische Projekt schwindet, nationale Ressentiments erstarken.
    Friede und Wohlstand keine Selbstverständlichkeit
    Wir müssen diese Alarmsignale sehr ernst nehmen. Wenn große Teile der jungen Generation Gefahr laufen, die europäische Integration nicht mehr als Lösung, sondern als Problem wahrzunehmen, so zeigt dies, dass das im 20. Jahrhundert Erreichte nicht ein für alle Mal als gesichert gelten kann. Es wäre ein enormer Irrglaube und unser größter Fehler, anzunehmen, Friede und Wohlstand in Europa seien heute eine Selbstverständlichkeit. Das Gegenteil ist der Fall: Sie müssen immer wieder aufs Neue hart erarbeitet werden.
    Die aktuellen Ereignisse in der Ukraine führen uns das besonders drastisch vor Augen. Sie stellen das europäische Friedensprojekt, die Europäische Union, vor eine schwierige Bewährungsprobe. Es droht nichts weniger als die erneute Spaltung Europas.
    Lehren aus dem Versagen in der Julikrise 1914
    Mit dem Ziehen historischer Parallelen sollte man stets vorsichtig umgehen. Das Versagen der Diplomatie in der Julikrise 1914 lehrt uns jedoch, dass wir uns in der aktuellen Krise nicht treiben lassen dürfen. Natürlich müssen wir als Europäer entschieden reagieren, wenn die russische Führung auf Eskalation setzt. Kluge Diplomatie nutzt dabei aber ihren gesamten Instrumentenkasten, der heute viel größer ist als 1914. Sie setzt sich keinem Automatismus der Eskalation aus. Sie setzt auf einen Ausgleich der Interessen, öffnete Räume für Kompromisse und bedenkt die Folgen ihres Handelns. Sie setzt sich über den Tag hinaus dafür ein, dass künftig überall die Stärke des Rechts, nicht das Recht des Stärkeren, gilt. Sie nimmt die Herausforderung an und geht den langen, den schwierigen Weg.
    Unsere Friedensordnung erhält sich nicht von selbst. Außenpolitische Vernunft, weitsichtiges Handeln und verantwortungsvolle Diplomatie sind unerlässlich.
    Nur so können wir auch in Zukunft von uns behaupten, Lehren aus 1914 gezogen zu haben.