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Szenen eines Coming-outs

"Vieux Carré" ist ein unbekannteres Stück des amerikanischen Dramatikers Tennesse Williams. Die experimentelle Theaterformation "Wooster Group" hat es in New York neu inszeniert.

Von Andreas Robertz | 11.03.2011
    Eine Kamera, verschiedene Flachbildschirme, statt Bühnenbild nackte Bühnenpodeste mit Requisiten und Kostümteilen, verschiedene Perücken und Dildos, dazu Schauspieler mit Mikroports und Ohrenstöpseln, die als sprechende Soundingenieure und Kameramänner multifunktional eingesetzt sind: Das klingt wie die Liste einer typisch postmodernen Theaterproduktion zwischen Text, Installation und Performance. Doch für die New Yorker Wooster Group sind all dies vertraute Versatzstücke ihrer nun mehr 30-jährigen Arbeit. An ihrem souveränen und bis ins kleinste Detail ästhetisierten Gebrauch dieser Stilelemente erkennt man die jahrelange Auseinandersetzung. Und Tennessee Williams' sehr früh geschriebenes und dann ganz spät vollendetes Stück "Vieux Carré" scheint durch seinen fragmentarischen Charakter und seine komplexe Abgründigkeit für die Wooster Group wie geschaffen zu sein.

    Ein völlig abgebrannter junger Schriftsteller findet auf der Suche nach neuen Erfahrungen in einer heruntergekommenen Privatpension in New Orleans' französischem Viertel "Vieux Carré" Zuflucht. In der nasskalten, fauligen Atmosphäre dieses Un-Ortes findet er Menschen, die zwischen sexueller Fantasie, Gewalttätigkeit und trügerischen Hoffnungen eingesperrt sind. Da ist zum Beispiel der an Tuberkulose erkrankte schwule Maler Nightingale, der ihn gerne in die Liebe einführen möchte und später in seinen Armen sterben wird; oder die früher einmal vornehme Miss Sparks, die ebenfalls an einer tödlichen Krankheit leidet und in sexueller und emotionaler Leibeigenschaft mit dem übergriffigen Türsteher Tye McCool lebt. Dieser hasst Schwule, lässt sich aber für 100 Dollar hin und wieder gerne von ihnen einen blasen. Und über all dem Elend thront die despotische Vermieterin Miss Wire mit grausamer Verachtung. Doch "Vieux Carré" ist nicht einfach düster und abgründig, wie es Regisseurin Elisabeth LeCompte, die die Truppe seit ihrer Entstehung künstlerisch leitet, beschreibt:

    "Es hat sich nicht wie ein normales Tennessee Williams Stück angefühlt. Die dunkle Seite war irgendwie unterbrochen mit diesem anderen schrägen Ding, von dem ich nicht wusste, was es war ... irgendetwas wie in einer Farce."

    Die Inszenierung zeigt die schwierig-komische Geburt eines Textes und seines Autors. Zusammen mit den Figuren auf der Bühne erfindet der junge Schriftsteller seinen Text und damit sich selbst. Er initiiert mit seiner Computertastatur schroffe akustische Szenenwechsel, schreibt auf ihr Dialogfetzen und Regieanweisungen, die dann entweder als Text auf die Bühne projiziert oder von den Schauspielern direkt aufgenommen werden. Oft ist unklar, wer eigentlich den Text erfindet. In manchen Momenten ringt der Schreiber wortwörtlich mit den Figuren um den nächsten Satz. Unterdessen wechselt ein Schauspieler sein Hemd und seinen Dildo, ein anderer kämmt sich vor einem Bildschirm die Haare, während er ein Video ansieht, in dem er sich die Haare kämmt. Satire und Realismus stehen direkt nebeneinander. Vermischt mit Motiven aus der chinesischen Oper, den Filmen von Paul Morrissey oder der anarchistisch-schrillen Videowelt des amerikanischen Installationskünstlers Ryan Trecartin erschafft der Abend die in Fragmente zerfallene und atmosphärisch intensive Welt eines jungen Schriftstellers, der mit seinem artistischen und sexuellen Coming-out ringt.

    Zum 100. Geburtstag von Tennessee Williams werden in New York viele der unbekannteren, oft unzugänglichen Stücke des Autors wieder aufgeführt. Mit "Vieux Carré" ist der Wooster Group ein Meilenstein der neueren Interpretation seines Spätwerks gelungen: ein alle Sinne anregender, extrem eindrücklicher Abend.