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T. C. Boyle: "Good Home"
Freakshow der menschlichen Ängste

In Deutschland hat T.C. Boyle eine eingeschworene Fangemeinde. Für diesen Markt gibt es nun einen Band mit 20 Kurzgeschichten. "Good Home" speist sich aus einer Fülle an gewitzten und lebensprallen Kurzgeschichten, ist aber vor allem eine Reise in persönliche Krisen und Ängste der Menschen seiner Heimat.

Von Paul Stoop | 15.05.2018
    Wohl kaum jemand, der T.C. Boyles Werk kennt, würde annehmen, dass der Titel "Good Home" ernsthaft für Amerika steht oder spezieller: für die kalifornische Heimat des Autors. Denn wie in seinen Romanen und früheren Kurzgeschichten, ist auch in diesen 20 Stories nichts gut oder heimelig. Alles mutet doppelbödig, latent gefährlich oder schicksalhaft verstrickt an. In der Eingangsszene von "Dreizehnhundert Ratten" wird uns ein Mann im Trauergottesdienst für seine Frau vorgestellt:
    "Er saß zusammengesunken in der ersten Reihe, unordentlich gekleidet, hingestreckt von der Gewalt seines Schmerzes, als wäre er aus großer Höhe dorthin gestürzt wie ein Vogel, den irgendeine Katastrophe mitten im Flug sämtlicher Federn beraubt hatte. Nach der Beerdigung, als wir ihm kondoliert hatten und heimgegangen waren, begannen die Gerüchte."
    Es schwant einem Übles, aber dann entfaltet sich unerwartet das Bild einer Dorfgemeinschaft, die fürsorglich und voller Empathie ist. Nur reicht das dann doch nicht, um ein schlimmes Ende zu verhindern.
    Zoom auf die handelnden Personen
    Boyle zoomt sich dicht heran an die handelnden und leidenden Personen. Deren sozialen oder familiären Kontext deutet er beiläufig und höchst effizient an. Nisha hört beim Autofahren ein merkwürdiges Motor-Husten und muss an ihren Vater denken. Ein einziger in Klammern gesetzter, eingeschobener Satz lässt den Leser die Familienaufstellung erahnen:
    "Benzinpumpe, lautete das Urteil ihres Vaters, gesprochen in jenem ausdruckslosen Ton, der sagte, das sei nicht sein Problem, nicht jetzt, da sie nach dem gescheiterten Versuch, auf eigenen Beinen zu stehen, wieder bei ihnen wohne."
    Die junge Afroamerikanerin Nisha hat vor Jahren den afghanischen Windhund "Admiral" des kinderlosen Ehepaars Striker gehütet. Jetzt hat sie zwar einen College-Abschluss, aber keine Berufsperspektive. Da melden sich die Strikers mit dem Angebot, den 250.000 Dollar teuren Klon des inzwischen verschiedenen Admiral zu hüten. Nisha soll die Garantin einer perfekten Hundekopie sein, also eine Art Betreuer-Klon ihrer selbst. Sollte das etwa ihre Zukunft sein?, fragt sie sich:
    "Eine schwarze Frau geht nicht putzen, hatte ihre Mutter immer gesagt. Es war in ihrer Jugend eine Art Mantra gewesen, mit dem grundlegende Werte bekräftigt und die Bedeutung von Bildung und geistiger Betätigung betont wurden, doch jetzt fragte sie sich unwillkürlich, wie weit eine Hundesitterin auf der sozioökonomischen Skala über einem Dienstmädchen stand."
    Fülle an lebensprallen Kurzgeschichten
    Die groteske Ironie, die Boyle bei der Betrachtung menschlichen Lebens einsetzt, ist nie billig, eher ein Teil seiner lakonisch-heiteren Sichtweise. Die Geschichte mit dem Titel "Das Schweigen" spielt während eines Gruppen-Retreats in der Wüste, bei dem drei Jahre, drei Monate und drei Tage kein Wort gesprochen werden soll. Hauptbeschäftigung des Protagonisten ist die verzweifelt-idiotische Suche nach einem persönlichen Mantra. Die Stille wird selbst durchgehalten, als eine Klapperschlange seiner Freundin den Tod bringt. Ihm bleibt am Ende nur die Flucht in einen Zustand zwischen Halluzination und Wahnsinn und der Blick auf eine grazile Botschafterin der Natur:
    "Seine Augen schlossen sich, doch seine Lider brannten, bis er sie wieder öffnete, und als er sie öffnete, war da die Libelle. Er betrachtete sie lange, das erlesene Zusammenspiel der Flügel, die zierlich verschnörkelte Kalligrafie der Beine und den vollkommenen Thorax. Und wie lautete ihre Nachricht? Sie brachte keine Nachricht, das sah er jetzt. Sie war nur ein Lichtsplitter, der einen Augenblick – nur diesen Augenblick – über dem Wüstenboden schwebte."
    Nicht alle Stories sind gleich stark. Eine Fülle an gewitzten und lebensprallen Kurzgeschichten bietet dieser Band aber allemal. Man könnte versucht sein, das Boyle’sche Panoptikum als Freakshow aufzufassen, deren Programm sich aus manchen Perversionen des amerikanischen Kapitalismus speist. Aber die Freaks, das sind wir: Menschen mit Ängsten, persönlichen Krisen, eingezwängt in erbarmungslos funktionierenden Hierarchien, oder Träumer, die dem Mitmenschen oder den Naturgewalten manchmal zu nahe kommen.
    T.C. Boyle: "Good Home"
    Aus dem Amerikanischen von Anette Grube und Dirk Gunsteren
    Verlag Carl Hanser, München 2018. 432 Seiten, 23 Euro.