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Tabulos, unangestrengt und amüsant

Im besten Fall sind Büchern für junge Leser auch immer Bücher für ältere Leser. Heute ist der beste Fall eingetreten. Der Büchermarkt widmet sich heute den Romanen des amerikanischen Schriftstellers John Green.

Von Ute Wegmann | 11.08.2012
    Greens Themen sind erste Liebe, erster Sex, die Auseinandersetzung mit Gott und Tod – Ereignisse, die unser ganzes Leben beeinflussen. Dennoch sprechen wir von Augenblicken, die der Jugend vorbehalten bleiben, wenn wir all das zum ersten Mal erleben. Für diese gefühlsstarken Situationen interessiert sich John Green und mit diesen Gefühlen möchte er seine Figuren konfrontieren. Und in der Konsequenz auch uns Leser und sich selber.

    Tabulos, unangestrengt und amüsant, mit spannenden, klugen Protagonisten und hervorragenden Dialogen erzählt der amerikanische Schriftsteller in seinen vier weltweit erfolgreichen und mit zahllosen Preisen ausgestatteten Romanen.

    "Ich fühle immer noch diese Intensität", sagte er in einem Interview mit der SZ im November 2010. "Die meisten Erwachsenen arrangieren sich irgendwann mit den Unzulänglichkeiten des Lebens. Sie regen sich nicht mehr so auf. Ich empfinde die Welt immer noch als sehr brüchig."

    John Green braucht in seinen Geschichten keine Fantasyebene und keine dystopischen Elemente. Unsere Welt mit all ihren Hochs und Tiefs ist ihm Anreiz genug. Und in diese Welt setzt er seine Figuren.

    "Eine wie Alaska" heißt sein Debütroman aus dem Jahr 2007. "Die erste Liebe nach 19 vergeblichen Versuchen" erscheint 2008, 2010 "Margos Spuren" und in diesem Sommer "Das Schicksal ist ein mieser Verräter". Alle Bücher wurden von Sophie Zeitz ins Deutsche übersetzt.

    Obwohl die Greenschen Figuren kein leichtes Leben haben, kämpfen, vielleicht scheitern, sich mit Schuld oder den Rätseln des Lebens auseinandersetzen, sind die Geschichten hoffnungsvoll und heiter.
    "Das Leben ist ja auch komisch", sagt John Green im vorhin zitierten Interview.

    Und folgt man dem Videoblog, den er mit seinem Bruder Hank betreibt, dann weiß man, dass Green es versteht, die heiteren Seiten des Lebens zu erkennen und zu genießen.

    Geboren wurde der Schriftsteller 1977 in Indianapolis, wo er heute mit seiner Familie lebt. Er studierte Englisch und vergleichende Religionswissenschaften, wollte Pfarrer werden. Nach einem Job in einem Kinderkrankenhaus brach er die Ausbildung ab und begann Rezensionen für die Branchenzeitschrift Booklist zu schreiben. So wurde er entdeckt. Der Videoblog, den er betreibt, heißt die Vlogbrothers. Sie haben eine riesige Fangemeinde. In Deutschland standen seine Bücher auf der Bestenliste des Deutschlandfunk, die Besten 7.

    Mit Lesungen aus den vier Romanen stellen wir den Autor John Green und seine philosophierenden, heiteren, lebensechten, manchmal verzweifelten, immer sympathischen Protagonisten vor.

    "Eine wie Alaska" ist eine Liebesgeschichte. Der 16-jährige Miles kommt neu an die Schule. Er sucht nach Wahrheit und Sinn des Lebens und findet Alaska. Sie ist der Mittelpunkt des Internatlebens: klug, belesen, mutig. Sie hat Sex und raucht und trinkt und in ihrer Gegenwart ist man immer nah am Schulverweis. Miles sagt: "Sie war wunderschön, und ich war hoffnungslos langweilig, und wenn Menschen Niederschlag wären, wäre ich Nieselregen und sie ein Hurrikan."
    Die Kapitelüberschriften sind ungewöhnlich und verweisen auf ein zentrales Ereignis: 136 Tage vorher. Der letzte Tag. 136 Tage nachher. Wir hören einen Ausschnitt aus dem Hörbuch, Zeitpunkt: der letzte Tag, gelesen von Andreas Fröhlich:

    Eine wie Alaska

    Alaska fing an. "Wahrheit oder Pflicht?"
    "Pflicht."
    "Küss mich."
    Und das tat ich.
    Es ging so schnell. Ich lachte, sah sie nervös an, und sie lehnte
    sich vor und legte den Kopf zur Seite, und wir küssten uns. Null
    Schichten zwischen uns. Unsere Zungen tanzten in unseren
    Mündern, bis es nicht mehr ihren Mund und meinen Mund gab,
    sondern nur noch unsere Münder verschlungen. Sie schmeckte
    nach Zigaretten und Mountain Dew und Wein und Lippenbalsam.
    Sie hob die Hand, und ich spürte, wie ihre zarten Finger die
    Konturen meines Gesichts nachzeichneten. Wir legten uns hin,
    als wir uns küssten, sie auf mich, und ich begann mich unter ihr
    zu bewegen. Dann rückte ich noch einmal ab und fragte: "Was
    passiert hier?", doch sie legte einen Finger an die Lippen, und wir
    küssten uns wieder. Sie griff nach meiner Hand und legte sie sich
    auf den Bauch. Langsam rutschte ich auf sie und spürte, wie sie
    sich unter mir streckte.
    Wieder zögerte ich. "Was ist mit Lara? Was ist mit Jake?" Wieder
    brachte sie mich zum Schweigen. "Weniger Zunge, mehr Lippen", flüsterte sie, und ich tat mein Bestes. Ich hatte gedacht, es
    käme auf die Zunge an, aber sie war die Expertin.
    "Gnade uns Gott", sagte der Colonel auf einmal ziemlich laut.
    "Es braut sich eine Tragödie zusammen."
    Doch wir achteten nicht auf ihn. Sie schob meine Hand von ihrer
    Taille zu ihrer Brust, und ich berührte sie vorsichtig, schob die
    Finger unter ihr Hemd, aber nicht in den BH, folgte der Kontur
    ihres Busens und umfasste ihn mit der Hand. "Das kannst du
    gut", flüsterte sie, ohne die Lippen von meinen zu nehmen. Wir
    bewegten uns zusammen, mein Körper zwischen ihren Beinen.
    "Das macht Spaß", flüsterte sie, "aber ich bin so müde. Machen
    wir morgen weiter?" Sie küsste mich noch ein bisschen, und
    ich wollte den Mund nicht von ihr nehmen, doch dann rollte sie
    unter mir heraus, legte den Kopf auf meine Brust und war eingeschlafen.
    Wir schliefen nicht miteinander. Wir waren nicht mal nackt.
    Ich habe ihre nackte Brust nicht berührt, und sie hat die Hand
    nicht an meiner Hose gehabt. Doch all das spielte keine Rolle.
    Während sie schlief, flüsterte ich: "Ich liebe dich, Alaska Young."
    Später, als ich gerade am Einschlafen war, meldete sich der
    Colonel: "Mann, hast du gerade mit Alaska rumgemacht?"
    "Ja."
    "Das wird ein schlimmes Ende nehmen", murmelte er wie zu
    sich selbst.
    Und dann war ich eingeschlafen. Dieser bleierne Schlaf, ihr
    Geschmack noch in meinem Mund, dieser Schlaf, aus dem man,
    obwohl er nicht sehr erholsam ist, nur schwer erwacht. Und dann
    hörte ich, wie draußen das Telefon klingelte. Glaube ich. Und ich
    glaube, obwohl ich mir nicht sicher bin, dass ich spürte, wie
    Alaska aufstand. Ich glaube, ich hörte, wie sie ging. Glaube ich.
    Wie lange sie weg war, kann ich nicht sagen.
    Der Colonel und ich, wir wachten beide auf, als sie zurückkam,
    wann immer das war, denn sie schlug die Tür zu und heulte wie an
    jenem Tag nach Thanksgiving, nur viel, viel schlimmer.
    "Ich muss hier raus!", schluchzte sie.
    "Was ist los?", fragte ich.
    "Ich hab's vergessen! Gott, wie oft muss ich noch alles verbocken?", sagte sie. Ich hatte nicht mal Zeit, mich zu fragen, was sie vergessen hatte.
    Sie schrie: "ICH MUSS WEG. HELFT MIR HIER RAUS!"
    "Wo willst du denn hin?"
    Sie sank aufs Bett und ließ schluchzend den Kopf zwischen die
    Beine hängen. "Bitte, lenkt den Adler ab, damit ich weg kann.
    Bitte."
    Der Colonel und ich antworteten im gleichen Moment, ebenbürtig
    in unserer Schuld: "Okay."
    "Du lässt die Lichter aus", sagte der Colonel. "Du fährst ganz
    langsam, ohne Scheinwerfer. Bist du sicher, dass du das schaffst?"
    "Scheiße", sagte sie. "Lenkt den Adler für mich ab." Sie
    schluchzte wie ein kleines Kind. "Oh Gott, oh Gott. Es tut mir so
    leid."
    "Okay", sagte der Colonel. "Lass den Motor an, wenn du die
    zweite Schnur hörst."
    Wir gingen los.
    Wir sagten nicht: Fahr nicht. Du bist betrunken.
    Wir sagten nicht: Wir lassen dich so nicht Auto fahren.
    Wir sagten nicht: Wir kommen mit, keine Widerrede.
    Wir sagten nicht: Es kann bis morgen warten. Alles kann bis
    morgen warten.
    Wir holten die drei Schnüre Böller aus dem Versteck unter
    dem Waschbecken in unserem Zimmer und rannten zum Adlerhorst.
    Wir waren uns nicht sicher, ob es noch einmal klappen
    würde.
    Doch es klappte. Der Adler stürmte aus dem Haus, kaum war
    die erste Schnur losgegangen – anscheinend hatte er nur darauf
    gewartet –, und wir rannten in den Wald und lockten ihn weit genug
    raus, dass er nicht hörte, wie sie wegfuhr. Der Colonel und ich
    nahmen einen Umweg zurück, wateten durch den Bach, um Zeit
    zu sparen, stiegen durchs Fenster in unser Zimmer ein und
    schliefen wie die Murmeltiere.

    Der Tag danach

    Die Turnhalle war bereits halb voll, als wir ankamen. In der
    Mitte des Basketballfelds war ein Podium aufgebaut, genau vor
    der Zuschauertribüne. Ich setzte mich in die zweite Reihe, der Colonel
    setzte sich vor mich.
    Der Adler bestieg das Podium und fragte: "Sind alle da?"
    "Nein", sagte ich. "Alaska ist noch nicht da."
    Der Adler sah zu Boden. "Sind sonst alle da?"
    "Alaska ist nicht da!"
    "Ja, Miles. Danke."
    "Wir können nicht ohne Alaska anfangen."
    Der Adler sah mich an. Er weinte lautlos. Die Tränen liefen
    ihm aus den Augen, rannen zum Kinn und tropften auf seine
    Cordhose. Er blickte mich an, doch es war nicht der Blick der Verdammnis.
    Er blinzelte, und die Tränen liefen herunter, und vor
    aller Augen war dem Adler anzusehen, wie leid es ihm tat.
    "Bitte, Sir", sagte ich. "Können wir bitte auf Alaska warten?"
    Ich spürte, wie uns alle anstarrten, und versuchte zu begreifen,
    was ich jetzt ahnte, aber noch nicht glauben wollte.
    Der Adler sah zu Boden und biss sich auf die Unterlippe. "Gestern
    Nacht hatte Alaska Young einen schrecklichen Autounfall."
    Jetzt strömten seine Tränen rascher. "Sie ist ums Leben gekommen.
    Alaska ist nicht mehr bei uns."
    Einen Moment lang war es vollkommen still in der Turnhalle,
    es war noch nie so ruhig an diesem Ort gewesen, nicht einmal
    kurz bevor der Colonel von der Linie aus die Gegner beschimpfte.
    Ich stierte auf den Hinterkopf des Colonels. Ich stierte und stierte
    in sein dichtes dunkles Haar. Es war so still, dass man das Geräusch
    des Nichtatmens hören konnte, das Vakuum von 190 Schülern,
    denen die Luft wegblieb.


    Unfall oder Selbstmord, die Suche nach der einen Wahrheit wird die Freunde mit neuen Einsichten konfrontieren.

    19 mal von einer Katherine verlassen zu werden, das kann kein Zufall mehr sein. Für Colin, einen hochbegabten jungen Mann, endet das 19. Mal gerade in einer Verzweiflung. Da rettet ihn sein schonungsloser Freund Hassan durch einen Ausflug ins Blaue. "Die erste Liebe nach 19 vergeblichen Versuchen" ist ein amüsantes und gleichsam tiefgründiges Roadmovie, in dem Colin anfangs noch versucht, die Beziehungsstatistik mit seinen Freundinnen anhand von Graphen zu fassen. Aber die Auseinandersetzung mit den Erinnerungen an die Frauen führt mehr und mehr zu anderen wichtigen, existentiellen Erkenntnissen. Wir hören den Anfang der Geschichte, gelesen von Andreas Fröhlich:

    Die erste Liebe

    Am Morgen nachdem das anerkannte Wunderkind Colin
    Singleton seinen Highschool-Abschluss gemacht hatte und ihn
    zum neunzehnten Mal in seinem Leben ein Mädchen namens Katherine
    sitzen ließ, legte er sich in die Badewanne. Colin hatte
    schon immer lieber gebadet als geduscht. Einer seiner Grundsätze
    im Leben lautete: Tu nichts im Stehen, was du auch im Liegen erledigen
    kannst. Sobald das Wasser heiß aus dem Hahn kam, stieg
    er in die Wanne, dann saß er da und sah mit seltsam leerem Blick
    zu, wie das Wasser von ihm Besitz nahm. Langsam kroch es an
    seinen angewinkelten, gekreuzten Beinen hoch. Verschwommen
    nahm er wahr, dass er zu groß und zu lang für die Wanne war – er
    sah aus wie ein fast erwachsener Mensch, der Kind spielt.
    Als das Wasser seinen mageren, sehnigen Bauch überspülte,
    musste er an Archimedes denken. Mit vier Jahren hatte Colin ein
    Buch über Archimedes, den griechischen Philosophen, gelesen,
    der in der Badewanne entdeckte, dass Volumen sich durch Wasserverdrängung
    messen ließ. Es heißt, dass Archimedes, als er die
    Entdeckung machte, splitternackt durch die Straßen rannte und
    "Heureka!"1 rief. In dem Buch stand, dass viele wichtige Entdeckungen
    mit einem "Heureka-Erlebnis" einhergingen.
    Colin holte tief Luft, dann ließ er sich am Wannenrand hinabgleiten
    und tauchte unter. Ich weine, dachte er, als er im schaumigen,
    beißenden Wasser die Augen öffnete. Ich habe das Gefühl, dass
    ich weine, also weine ich wahrscheinlich, doch ich kann es nicht
    wissen, weil ich unter Wasser bin. Aber Colin weinte nicht.
    Erstaunlicherweise war er zu deprimiert zum Weinen. Er war zu
    verletzt. Es fühlte sich an, als hätte Katherine ihm den Teil, der
    weinte, weggenommen.
    Schließlich zog er den Stöpsel, stand auf, trocknete sich ab und
    kleidete sich an. Als er aus dem Bad kam, saßen seine Eltern zusammen
    auf seinem Bett. Es war nie ein gutes Zeichen, wenn
    seine Eltern gleichzeitig in seinem Zimmer waren. In den letzten
    Jahren hatte es Folgendes bedeutet:
    1. Deine Großmutter/Dein Großvater/Deine Tante Suzie, die/
    den du nie kennengelernt hast, die/der aber furchtbar lieb war,
    ist leider gestorben.
    2. Du lässt wegen eines Mädchens namens Katherine die Schule
    schleifen.
    3. Babys entstehen durch einen Akt, den du irgendwann vielleicht
    mal interessant findest, aber im Moment würdest du nur
    Albträume davon bekommen, und manchmal tun die Menschen
    etwas mit den dafür vorgesehenen Körperteilen, ohne
    dass ein Baby rauskommt, zum Beispiel küssen sie sich an
    Stellen, die nicht das Gesicht sind.
    Es bedeutete nie:
    4. Als du in der Badewanne warst, hat ein Mädchen namens
    Katherine angerufen. Es tut ihr leid. Sie liebt dich immer noch
    und hat einen schrecklichen Fehler gemacht und wartet unten
    auf dich.
    Trotzdem konnte sich Colin der Hoffnung nicht erwehren, dass es
    Fall 4 war, weswegen seine Eltern zusammen auf seinem Bett saßen.
    Normalerweise war er Pessimist, doch bei Katherines machte
    er offenbar eine Ausnahme: Jedes Mal hegte er die Hoffnung,
    dass sie zu ihm zurückkämen.


    Sie wird nicht zurückkommen, soviel sei verraten. Die 20. Frau wird jedenfalls nicht Katherine heißen.

    Der dritte Roman trägt den Titel "Margos Spuren". Auch hier wie in den vorangegangenen Romanen treffen wir auf einen eher schüchternen jungen Mann, einen Außenseiter, und eine starke Frauenfigur. Quentin ist schon seit seiner Kindheit in die hübsche, rätselhafte Margo verliebt. Eines Nachts bittet das Mädchen ihn elf Probleme zu lösen, es ist ein Rachefeldzug gegen ihren Freund Jason, der sie betrogen hat. In dieser Nacht überwindet Quentin elf Mal seine Ängste und Bedenken und unterstützt Margo.

    Aber Margo bleibt seitdem verschwunden. Durch die Suche nach ihr, erkennt Quentin nach und nach, dass man jedes Zeichen auf unterschiedliche Weise deuten kann. John Green spielt in diesem Roman mit dem Thema Sein und Schein und zeigt, dass das Bild, das man sich von anderen Menschen macht, oft eine Projektion ist, dass aber jede Vorstellung, egal ob richtig oder falsch, wichtig ist, um Handeln in Gang zu setzen.

    Wir hören einen Auszug aus Margos Spuren, gelesen von Yorck Dippe:

    Margos Spuren:

    Ich fand es ziemlich unfair, dass ein Arschloch wie Jason
    Worthington sowohl Margo als auch Becca ins Bett kriegte,
    während vollkommen liebenswerte Personen wie meine Wenigkeit
    keine von beiden ins Bett kriegten – oder sonst ein Mädchen.
    Andererseits halte ich es mir zugute, dass ich nicht der Typ
    bin, der scharf auf Becca Arrington ist. Sie war vielleicht ganz
    hübsch, aber außerdem war sie 1. provozierend geistlos und 2.
    eine hundertprozentige stutenbissige Oberzicke. Diejenigen
    von uns, die im Musikraum verkehrten, hatten längst den Verdacht,
    dass Becca ihre hübsche Figur dadurch hielt, dass sie sich
    von den Seelen junger Kätzchen und den Träumen armer Kinder
    ernährte. "Becca ist sowieso eine blöde Ziege", sagte ich, um die
    Unterhaltung irgendwie am Laufen zu halten.
    "Ja", antwortete sie, während sie aus dem Beifahrerfenster
    starrte. Ihr Haar glänzte im Licht der Straßenlaternen. Einen
    Moment dachte ich, sie weinte, doch dann hatte sie sich wieder
    gefasst, zog sich die Kapuze über den Kopf und nahm die Kralle
    aus der Wal-Mart-Tüte. "Na ja, jedenfalls werden wir uns heute
    amüsieren", sagte sie, als sie die Plastikverpackung aufriss.
    "Darf ich schon fragen, wo es hingeht?"
    "Zu Becca", sagte sie.
    "Oh-oh", antwortete ich und blieb am nächsten Stoppschild
    stehen. Ich legte die Handbremse ein und versuchte Margo zu
    sagen, dass ich sie lieber nach Hause fahren würde.
    "Keine Straftaten. Versprochen. Wir müssen Jasons Wagen
    finden. Becca wohnt da vorne rechts, aber er parkt bestimmt
    nicht vor dem Haus, wenn ihre Eltern da sind. Versuch es in der
    Parallelstraße. Das ist Teil eins."
    "Na gut", sagte ich. "Aber dann fahren wir nach Hause."
    "Nein. Dann kommt Teil zwei von elf."
    "Margo, das ist keine gute Idee."
    "Fahr einfach", sagte sie, und ich gehorchte. Wir fanden Jasons
    Lexus zwei Straßen weiter, am Ende der Stichstraße. Noch
    bevor ich zum Stehen kam, war Margo mit der Kralle in der
    Hand aus dem Kleinbus gesprungen. Sie öffnete die Fahrertür
    von Jasons Wagen, setzte sich auf den Sitz und begann die Kralle
    an Jasons Lenkrad anzubringen. Anschließend drückte sie leise
    die Tür hinter sich zu.
    "Der Penner schließt seinen Wagen nie ab", flüsterte sie, als
    sie wieder bei mir war. Den Schlüssel der Kralle steckte sie ein.
    Dann wuschelte sie mir durch die Haare. "Teil eins ist erledigt."
    Unterwegs erklärte sie mir Teil zwei und drei.
    "Das ist ziemlich brillant", sagte ich, obwohl meine Nerven
    bis zum Anschlag prickelten.



    In seinem Roman "Das Schicksal ist ein mieser Verräter" konfrontiert Green seine Leser mit zwei jugendlichen unheilbar kranken Krebspatienten. Anders als in anderen Krebsbüchern geht es nicht um verpasste Chancen, um Dinge, die man noch unbedingt erleben möchte, sondern im Mittelpunkt stehen die Fragen: Warum war ich in der Welt? War ich wichtig? Und, was wird aus denen, die zurückbleiben, wenn ich gehe?

    John Green will keinen Krebsroman schreiben, das teilt er uns durch seine 16-jährige Protagonistin Hazel gleich zu Beginn mit, "denn Krebsbücher sind doof. In Krebsbüchern gründen die Krebshelden zum Beispiel immer irgendeine Wohltätigkeitsorganisation, um Geld für die Krebsforschung zu sammeln."

    In "Das Schicksal ist ein mieser Verräter" geht es vielmehr um die Liebe mit dem Wissen um die Endlichkeit und um die Erkenntnis, das auch ein kurzes Leben ein ganzes, ein erfülltes, ein glückliches Leben sein kann.

    Mit einem besonderen Humor hat Green die beiden Verliebten Hazel und Gus ausgestattet. Nichts wird verheimlicht. Überraschend direkt lernt man vieles über Nebenwirkungen, Einschränkungen und Hoffnungen, die sich an die Krankheit knüpfen.

    Wie schafft man es, das erste Mal miteinander zu schlafen, wenn sie das T-Shirt über ihre Sauerstoffflaschenschläuche ziehen muss, während er neben der Jeans auch noch sein halbes Bein ausziehen soll? Man schafft es: langsam, behutsam, liebevoll, leise.

    Wir hören einen Auszug: Hazel begegnet Gus zum ersten Mal in der verhassten Selbsthilfegruppe. Es liest Anna Maria Mühe:

    Das Schicksal ist ein mieser Verräter

    Die Selbsthilfegruppe war also ätzend, und nach ein paar Wochen sträubte ich mich mit Händen und Füßen gegen den ganzen Zirkus. Tatsächlich hatte ich just an dem Sonntag, an dem ich die Bekanntschaft von Augustus Waters machte, alles versucht, die Selbsthilfegruppe zu schwänzen, während ich mit meiner Mutter auf dem Sofa saß und den dritten Teil eines zwölfstündigen America's-Next-Top-Model-Marathons vom vergangenen Jahr sah, den ich zugegebenermaßen bereits kannte.

    Ich: "Ich weigere mich, zur Selbsthilfegruppe zu gehen."
    Mom: "Das Desinteresse an Aktivitäten ist ein Symptom der
    Depression."
    Ich: "Bitte, lass mich einfach America's Next Top Model sehen.
    Das ist auch eine Aktivität."
    Mom: "Fernsehen ist passiv."
    Ich: "Ach, Mom. Bitte."
    Mom: "Hazel, du bist ein Teenager. Du bist kein kleines Kind
    mehr. Du musst Leute kennenlernen, aus dem Haus gehen, dein
    Leben leben."
    Ich: "Wenn du willst, dass ich mich wie ein Teenager benehme,
    dann schick mich nicht zur Selbsthilfegruppe. Besorg mir einen
    gefälschten Ausweis, damit ich in Clubs reinkomme und Wodka
    trinken und Haschisch nehmen kann."
    Mom: "Erstens, Haschisch nimmt man nicht."
    Ich: "Siehst du, so was wüsste ich, wenn du mir einen gefälschten
    Ausweis besorgen würdest."
    Mom: "Du gehst zur Selbsthilfegruppe."
    Ich: "Aaaaaaaaaaaaarrggghhh."
    Mom: "Hazel, du verdienst zu leben."
    Darauf fiel mir nichts ein, auch wenn ich nicht nachvollziehen konnte, auf welcher Ebene die Teilnahme an der Selbsthilfegruppe die Definition von Leben erfüllte. Trotzdem ließ ich mich breitschlagen – nachdem ich ausgehandelt hatte, dass ich die 1,5 Folgen von ANTM aufnehmen durfte, die ich verpassen würde.

    Der Grund, aus dem ich zur Selbsthilfegruppe ging, war derselbe, aus dem ich Krankenschwestern mit einer gerade mal achtzehn Monate langen Ausbildung erlaubte, mich mit Medikamenten mit exotischen Namen zu vergiften: Ich wollte meine Eltern glücklich machen. Denn es gibt nur eins auf der Welt, das ätzender ist, als mit sechzehn an Krebs zu sterben, und das ist, ein Kind zu haben, das an Krebs stirbt.

    Um 16:56 Uhr fuhr Mom in die halbrunde Auffahrt vor der Kirche. Ich fummelte an meiner Sauerstoffflasche herum, um Zeit zu schinden.
    "Soll ich sie dir reintragen?"
    "Nein, geht schon", sagte ich. Die grüne Metallflasche wog nur ein paar Pfund, und ich hatte einen kleinen Wagen, auf dem ich sie hinter mir herzog. Sie versorgte mich über einen durchsichtigen Schlauch, der sich im Nacken teilte, hinter meinen Ohren entlanglief und sich an den Nasenlöchern wieder traf, mit einem Liter Sauerstoff pro Minute. Der war nötig, weil meine Lunge grottenschlecht in ihrem Job war.

    "Ich hab dich lieb", sagte Mom, als ich endlich ausstieg.
    "Ich dich auch, Mom. Bis sechs."
    "Lern Leute kennen!", rief sie durchs runtergelassene Fenster
    hinter mir her.
    Ich wollte nicht mit dem Fahrstuhl fahren, weil der Fahrstuhl in der Selbsthilfegruppe so was Letztes-Stündlein-Mäßiges an sich hatte, also ging ich zu Fuß die Treppe runter. Dann nahm ich mir einen Keks, schenkte mir Limonade in einen Plastikbecher und drehte mich um. Ein Junge starrte mich an.

    Ich war mir ziemlich sicher, dass ich ihn noch nie gesehen hatte. Er war groß und schlaksig, sodass der kleine weiße Plastikstuhl der Sonntagsschule wie ein Zwergenstühlchen unter ihm wirkte. Sein Haar war kastanienbraun, glatt und kurz. Er war vielleicht so alt wie ich oder ein Jahr älter und saß mit provozierend schlechter Haltung da, Hintern an der Stuhlkante, eine Hand in der Tasche seiner dunklen Jeans.

    Ich wandte den Blick ab, während mir mit einem Mal all meine tausend Schwächen bewusst wurden. Die alten Jeans, die ich trug, waren mal eng gewesen, aber jetzt flatterten sie an den falschen Stellen, und die Band auf meinem gelben T-Shirt fand ich schon lange nicht mehr gut. Und meine Haare: Ich hatte diesen Bubikopf, den man trägt, wenn man vorher eine Glatze hatte, und hatte mir nicht mal die Mühe gemacht, mich zu bürsten. Dazu kamen die grotesk aufgeblasenen Hamsterbacken, noch so eine Nebenwirkung der Behandlung. Ich sah aus wie ein normal gebauter Mensch mit einem Luftballon als Kopf. Von meinen geschwollenen Fesseln ganz zu schweigen. Trotzdem – als ich mich wieder umsah, klebte sein Blick immer noch an mir.

    Zum ersten Mal verstand ich, warum es Augenkontakt hieß. Ich ging in den Kreis und setzte mich neben Isaac, zwei Plätze von dem neuen Jungen entfernt. Ich sah wieder in seine Richtung. Er beobachtete mich immer noch. Also, ich sage es ganz offen: Der Typ war echt süß. Wenn man von einem nicht-süßen Jungen angestarrt wird, ist es im besten Fall peinlich und im schlimmsten Fall eine Form von Belästigung.

    Aber bei einem süßen Typen ... na ja.


    Zum Schluss ist man tief berührt vom Verhalten zweier junger Menschen, die scheinbar zu wenig Zeit auf der Welt hatten. In Wahrheit aber berührt den Leser das Glück, das die beiden erleben durften, weil sie für den anderen das Wichtigste im Leben sein konnten.

    Je länger man mit John Greens Geschichten unterwegs ist, um so mehr spürt man die Qualität der Romane und die Besonderheit des Autors. Das unterscheidet Literatur von guter Unterhaltung. Gute Figuren sind unsterblich und begleiten den Leser, weit über die letzte Seite hinaus.

    Man möchte John Green's humorvollen und klugen Blick auf das Leben mit in den eigenen Alltag nehmen. Die Leichtigkeit, mit der er ernste Themen behandelt, ist eine gelungene Rezeptur für eine tägliche Medizin. So muss Literatur sein.

    Das war der Büchermarkt mit den Romanen des amerikanischen Schrifstellers John Green.

    - Eine wie Alaska
    ISBN 978-3-446-20853-7

    - Die erste Liebe (nach 19 vergeblichen Versuchen)
    ISBN 978-3-446-23091-0

    - Margos Spuren
    ISBN 978-3-446-23477-2

    - Das Schicksal ist ein mieser Verräter
    ISBN 978-3-446-24009-4

    Alle Bücher sind ins Deutsche übertragen von Sophie Zeitz und im Hanser Verlag erschienen.