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Tabuthema Hochbetagte

Die Gesellschaft altert - das ist ein alter Hut. Doch wird Wissenschaftlern zufolge insbesondere die Zahl der Hochbetagten kräftig ansteigen, also die Generation 80 plus - in Zukunft stellen sie vielleicht ein Siebtel der Bevölkerung.

Von Peter Leusch | 01.10.2009
    "Der Anteil der 80-Jährigen und älter beträgt heute an der Gesamtbevölkerung vier Prozent, und wir gehen davon aus, dass im Jahre 2040, 2045 dieser Anteil bei 13, 14 wenn nicht sogar 15 Prozent liegen wird, und dies bedeutet, der demografische Wandel entfaltet seine größte Dynamik in den höchsten Altersgruppen, das heißt nicht nur in der Gruppe der älteren Menschen, 60, 65 Jahre aufwärts, sondern in der Gruppe der 80-Jährigen und älteren Menschen."
    Andreas Kruse, Gerontologe an der Universität Heidelberg, umreißt in Zahlen die künftige demografische Entwicklung. Immer mehr Menschen in Deutschland werden sehr alt, in Zukunft stellen sie vielleicht ein Siebtel der Bevölkerung. Gleichzeitig spannt sich die Lebensphase, die man Alter nennt, immer weiter auf: Sie reicht von den jungen Alten, die körperlich und geistig fit sind, den sogenannten Go-Goes, die mit weit über 70 noch auf die Berge kraxeln, über die Slow-Goes, die trotz mancher Einschränkungen ihr Leben selbstständig führen, bis zu den No-Goes, den chronisch Kranken, die auf Pflege oder Klinik angewiesen sind.
    Aber diese populäre Einteilung in Go-Goes, Slow-Goes und No-Goes stellt selber schon ein Problem, ja eine ideologische Falle dar. Denn wenn die Gesellschaft Mobilität und Fitness zu alles überragenden Kriterien erhebt, gerät das Bild der Hochbetagten immer schwärzer und negativer, so der Marburger Kulturwissenschaftler und Europa-Ethnologe Harm Peer Zimmermann. Die Lebenssituation der Hochbetagten wird deshalb entweder tabuisiert oder in düstersten Farben gemalt:

    "Schreckbilder, das heißt unter dem Diktat des active aging fallen bestimmte Themen unter den Tisch, also Verletzlichkeit, Endlichkeit, Hinfälligkeit, bzw. sie werden dramatisiert zum Thema. Man stellt sich das vor wie einen Blick in den Abgrund, einerseits einen finanziellen Abgrund – wer soll das alles finanzieren? - andrerseits einen existenziellen Abgrund, das sind dann Menschenschilderungen, die besagen, dass dort gar nichts mehr geht, dass den alten Menschen gar nichts mehr zuzutrauen ist, insbesondere dann, wenn sie demenzkrank sind."
    Harm Peer Zimmermann bläst zur wissenschaftlichen Offensive gegen ein einseitiges Bild, in dem das hohe Alter auf körperlichen und geistigen Verfall, auf Defizite reduziert wird.

    "Demenzkrank sind eigentlich diese Literaturen, die nämlich vergessen, dass diese Demenzkrankheit nur ein Thema der Hochaltrigkeit ist, dass es viele Seiten der Hochaltrigkeit gibt, die interessant sind, die andere Lebensentwürfe haben, als diejenigen, die wir in einer beschleunigten, wirr gewordenen unruhigen Gesellschaft heute finden, hier haben wir also gerade vom hohen Alter einen Gegenpol zu erwarten, der uns verweist auf Ruhe, Gelassenheit, möglicherweise sogar auf Entschleunigung, auf die Werte der Langsamkeit, die wir am hohen Alter gespiegelt uns selber auch zum Vorbild nehmen können."
    Zusammen mit dem führenden Gerontologen Andreas Kruse hat Harm Peer Zimmermann ein interdisziplinäres Forschungsprojekt organisiert. Es will die gesellschaftlichen Altersbilder untersuchen, mit besonderem Fokus auf dem vierten Lebensalter, den Hochbetagten. Dritter im wissenschaftlichen Bunde ist der Dresdner Philosophie- und Ethikprofessor Thomas Rentsch.

    Rentsch versteht die Arbeit als ein Aufklärungsprojekt, das in die Lehrerausbildung und in den Schulunterricht hineingetragen werden muss. Damit schon früh ein ethisches Bewusstsein entsteht, das für alle Aspekte des menschlichen Lebens, eben auch für die Hochaltrigkeit, sensibilisiert ist.

    "Aufklärung heißt nicht nur Aufklärung im Sinne der Sexualaufklärung, sondern in der Perspektive des ganzen Lebens, das ist ein Desiderat, das wir lange noch nicht haben, das muss den Jugendlichen und den Heranwachsenden klar werden, dass sie eben ein ganzes Leben vor sich haben, mit all den Aspekten, die dort eine Rolle spielen, unter Einschluss der Endlichkeit, Verletzlichkeit, Hochaltrigkeit und all der damit verbundenen Phänomene, das ist etwas was noch großer Arbeit bedarf."
    Im ersten Jahr des Forschungsprojektes, das in diesem Monat startet, analysiert man die Vorstellungen vom hohen Alter, wie sie in allen möglichen Texten auf ganz unterschiedlichen Ebenen kursieren. Die Wissenschaftler haben dafür eine Arbeitsteilung vereinbart: Das gerontologische Team um Andreas Kruse untersucht, wie das Phänomen Hochaltrigkeit in wissenschaftlichen Fachbüchern und –zeitschriften der Medizin und der Pflegeausbildung dargestellt wird.
    Thomas Rentsch und seine Mitarbeiter befragen zum selben Thema die Werke der Philosophie und die ethische Diskussion der Gegenwart. Der Kulturwissenschaftler Harm Peer Zimmermann und das Marburger Institut für Europäische Ethnologie schließlich widmen sich dem breiten Spektrum an populären Schriften, schauen wo und wie hier das vierte Lebensalter gezeichnet wird.

    "Das wollen wir untersuchen am Beispiel von Massenblättern, Yellow Press. Wenn Sie zum Arzt gehen, dann sitzen dort die alten Menschen und lesen bestimmte Dinge in den Zeitungen, Blättchen wie Neue Frau, Gelbes Blatt, und was sich da verbirgt zum Thema Hochaltrigkeit, das wollen wir untersuchen. Zum anderen sind es Texte aus Ratgeberliteraturen, der Markt der Ratgeber ist einer der größten, und ein starkes Segment sind die Ratgeberbücher zum Thema Alter, und hier wollen wir schauen, wie wird mit diesen Dingen in den populären Ratgebern umgegangen."
    Die Öffentlichkeit, so die Ausgangshypothese der Wissenschaftler, hegt ein einseitiges Defizit-Bild, das der differenziellen Wirklichkeit des hohen Alters nicht gerecht wird und einen klugen Umgang verhindert. Hier steht eine alternde Gesellschaft sich gleichsam selbst im Wege.

    Andreas Kruse:

    "Das hohe Lebensalter wird als eine Lebensphase angesehen, die man gerne beschreibt als Vorhof des Todes, als eine Phase nur noch der Pflegebedürftigkeit, des kognitiven Abbaus, das heißt so positiv in unserer Gesellschaft das junge Alter betrachtet wird, so kritisch wird das alte Alter betrachtet, weil es für die Bevölkerung – und da ist für unsere Studie sehr wichtig, - nur sehr schwer nachvollziehbar und differenzierbar ist, dass Menschen gleichzeitig massive körperliche zum Teil auch kognitive Einschränkungen zeigen können, aber auf der anderen Seite durchaus in der Lage sind, zu dem, was wir Selbstaktualisierung nennen, das bedeutet, dass sie die emotionale Seite ihrer Person, die empfindungsbezogene Seite ihrer Person, die Begegnungsseite, die alltagspraktischen Fertigkeiten, dass sie diese zum Teil noch in einer bemerkenswerten Weise verwirklichen können."
    Altern ist kein eindimensionaler, sondern ein vielschichtiger Prozess, der zudem individuell sehr unterschiedlich verläuft. Deshalb ist das Bild des hohen Alters zu revidieren, allerdings auch nicht schönzufärben.

    Denn im hohen Alter nimmt die Verletzlichkeit zu. Das Risiko einer körperlichen und hirnorganischen Erkrankung steigt rapide an, ebenso die Pflegebedürftigkeit, auf der anderen Seite beeindruckt die psychische Widerstandsfähigkeit hochbetagter Menschen. Sofern sie in einem positiven Umfeld leben, sind sie keineswegs häufiger von Depressionen heimgesucht als andere Bevölkerungsgruppen. Und den körperlichen Einbußen stehen trotz nachlassenden Gedächtnisses zumeist gut erhaltene geistig-seelische Kompetenzen gegenüber, ein reges Gefühlsleben und soziale Kontaktfähigkeit.

    Deshalb verwundert es auch nicht, dass viele alte Menschen ihre Situation selbst anders beurteilen als die breite Öffentlichkeit.

    "Wenn man Hochaltrige selbst befragt, sagen die oftmals – abgesehen von gewissen Problemen, die man auch in früheren Jahren schon hat – dass es ihnen doch eigentlich ganz gut geht, dass sie eine hohe Zufriedenheit mit ihrem Alltagsleben aufweisen und auch in der Tat ein glückliches Leben führen, und diese Seiten herauszuarbeiten, einerseits aus den Diskursen, andrerseits in Gesprächen mit hochaltrigen Menschen, das wäre ein wichtiges Anliegen dieses Projektes, um diese Debatte zu differenzieren, um ein breiteres Bild von Hochaltrigkeit zu entwickeln."
    Gespräche mit hochaltrigen Menschen bilden einen Schwerpunkt im zweiten Forschungsjahr. Hier legen die Kulturwissenschaftler den Betroffenen, ihren Angehörigen und Vertretern von Altenorganisationen jene Bilder zur Diskussion vor, die man in der ersten Forschungsphase aus den populären Texten herausgefiltert hat.
    Parallel zu den Interviews mit den Betroffenen führen die Gerontologen Gespräche mit Medizinern und Pflegekräften. Auch hier geht es darum, das Altersbild in der Fachliteratur mit den praktischen Erfahrungen in Kliniken und Pflegeheimen abzugleichen.

    Denn in der Praxis setzt man bei der Behandlung mancher Erkrankungen, egal wie alt der Patient ist, auf die Rehabilitationschance. Zum Beispiel beim Schlaganfall:

    "Beim Schlaganfall spielt das Lebensalter nur eine untergeordnete Rolle und wir brauchen bis in das höchste Lebensalter hinein gute Aktivierungsmaßnahmen, physio- und ergotherapeutische Maßnahmen, kognitives und körperliches Training, alltagspraktisches Training, um auf diese Art und Weise dazu beizutragen, dass Menschen weitgehend ihre Selbstständigkeit und Selbstverantwortung wiedererlangen, und da wird heute immer weniger das Lebensalter zu einem entscheidenden Merkmal gemacht, während es bei der Demenz anders aussieht, da haben wir eher die Tendenz eines gewissen Fatalismus, das viele sagen, wenn eine Demenz aufgetreten ist, dann kann man eben nicht mehr viel machen."
    Die Demenzerkrankungen, vor allem Morbus Alzheimer, sorgen für den größten Schrecken. Jedes Jahr – so Andreas Kruse – gibt es 250.000 Neuerkrankungen in der BRD. Noch ist keine ursächliche Therapie in Sicht. Fachleute diskutieren Präventivprogramme und Begleitmaßnahmen, die den Krankheitsverlauf verlangsamen und seine Symptome lindern. Dennoch wirkt Alzheimer wie ein modernes Memento mori, das schon im Leben vor Augen führt, wie sterblich wir sind.
    Alle Vorstellungen vom Alter implizieren ein bestimmtes Verständnis von Menschsein, sie enthalten ein Menschenbild. Und dieser Zusammenhang wird vor allem auf der philosophischen Gesprächsebene Thema, wo Thomas Rentsch mit Studierenden und Lehramtsanwärtern für das Fach Ethik diskutieren wird.

    "Wir leben ja in einer Leistungsgesellschaft. Ich muss das mal sarkastisch sagen, dass das Leben mit einer Behinderung eine viel größere Leistung ist als ohne Behinderung, das verstehen die Leute zunächst nicht, auch wenn man fünfmal so langsam geht, bzw. man braucht fünfmal so lange, um sich eine Tasse Kaffee zu holen, dann ist das eine viel größere Leistung, die muss einfach anerkannt und gewürdigt werden, und nicht reduktionistisch stigmatisiert werden – das ist das eine. Das andere ist, dass sich durch Behinderung auch neue Lebensperspektiven ganz konkret eröffnen können, das heißt, wenn ich langsamer laufe, dann kann ich ruhiger und muss ruhiger betrachten und kann durchaus damit eine Perspektive gewinnen, dass ich mehr zu mir selber komme, als wenn ich ständig durch die Gegend hetze von einem Ort zum anderen und damit belastet bin - ich will das nicht romantisch verherrlichen, aber in Einschränkungen können große Sinnpotenziale liegen."
    Vorstellungen vom Alter sind kulturabhängig. Und die moderne westliche Gesellschaft hat die aktiven Seiten des Menschseins zu einem Höchstmaß entwickelt, sie hat aber auch andere Daseinsmöglichkeiten verkümmern lassen: Muße und Meditation, Ruhe und Gelassenheit, die vita contemplativa.

    Vielleicht muss sich die westliche Gesellschaft, da sie zunehmend altert, mit dem Lebensentwurf und dem Altersbild anderer Kulturen befassen, auch wenn sich das nicht geradewegs importieren lässt.

    "Die japanische Kultur, die vom Zen-Buddhismus geprägt ist, und in dieser Richtung Gelassenheit predigt, bezieht das natürlich auch aufs Alter. Dort ist man erst richtig zum Menschen geworden, wenn man alt ist, dann hat man Lebenserfahrung gesammelt, bestimmte Dinge auf dem Konto, sozusagen, und kann in gewisser Weise Gelassenheit üben, dort wird also auch gefordert, gelassen mit dem Alter und seinen Einschränkungen, die es ja gibt, umzugehen, aber auch die Möglichkeiten nicht zu unterschätzen.
    Ähnlich in China: Der Konfuzianismus fordert Altenehrung, Altenpietät. Sie finden kein gelasseneres Verhältnis zur Hochaltrigkeit als in den asiatischen Ländern."

    Dass das Leben weitergeht und der Tod nicht das letzte Wort behält, ist ein Traum seit Menschengedenken. Die Religionen verheißen ewiges Leben, die säkularisierte Moderne hat diese Idee zwar abgeschwächt, aber nicht aufgegeben. Sie hofft mittels Medizin und Technik, das Leben im Diesseits immer weiter zu verlängern. Hier erteilt die Erfahrung der Hochaltrigkeit eine unerbittliche Lektion in Verletzlichkeit und Endlichkeit. Dennoch sprechen die Wissenschaftler im Untertitel ihres Forschungsprojektes vom "Guten Leben im hohen Alter". Das setzt freilich ein kreatives Verständnis voraus.

    Thomas Rentsch:

    "Aufgrund einer begriffenen Endlichkeit gibt es nicht die Perspektive einer immer weiteren Lebensverlängerung, sondern es gibt dann nur – auch schon vorher – die Perspektive der Lebensvertiefung. Die Lebensvertiefung ist aber für Menschen unterschiedlich zu denken, sie kann sich darin darauf beziehen, sich mit etwas zu beschäftigen, sie kann sich darauf beziehen, wenn Sie die Möglichkeit noch haben, sinnvolle Aktivitäten zu entwickeln, sie kann auch in anderen Perspektiven bestehen, die man herausfinden muss, es gibt viele Beispiele, die wir noch nicht vor Augen haben oder die uns nicht allgemein bekannt sind, wo Menschen sinnvoll und glücklich mit diesen Situationen umgehen können. Das ist das Ziel dieses Projektes, wir sind am Anfang, wir fragen und hoffen auf innovative Antworten."
    Das Forschungsprojekt, zunächst auf drei Jahre angelegt, hat sich hohe Ziele gesteckt. Nicht nur Publikationen auf den Buchmarkt zu bringen, sondern auch hinein zu wirken in Medizin, Gesellschaft und Politik
    Andreas Kruse und Harm Peer Zimmermann arbeiten in der Kommission für den periodischen Altenbericht des Deutschen Bundestags, Thomas Rentsch ist in der Ethiklehrerausbildung engagiert.

    Das Forschungsprojekt will aufklären, nicht zuletzt die älter werdenden Menschen selbst, damit sie sich frühzeitig mit den Fragen eines guten Alters auseinandersetzen:
    Wie will ich später leben? Wo will ich wohnen? Was kann ich für Barrierefreiheit tun? Mit wem möchte ich zusammen sein? Was will ich eigentlich nachfolgenden Generationen weitergeben? Wie soll in meinen Augen eine gute medizinische, pflegerische Versorgung aussehen? Bin ich sicher eine ausreichende Finanzplanung für mein Alter entwickelt zu haben, da ich viel älter werden kann, als ich heute annehme.