Freitag, 19. April 2024

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Tabuthemen am Theater Oberhausen
Drei Frauengenerationen erzählen von Scham

Zunächst wirken die Familienverwerfungen auf der Bühne am Theater Oberhausen aufgesetzt und klischeehaft. Doch schnell wird klar: Die junge Wiener Autorin Claudia Tondl bricht mit der Uraufführung ihres Stücks "Scham" Tabus, findet aber auch eindringliche Worte für weibliche Sprachlosigkeit und Hilflosigkeit.

Von Dorothea Marcus | 01.12.2018
    Eine Szene aus "Scham" am Theater Oberhausen. Vorne: Banafshe Hourmazdi. Hinten: Ingrid Sanne, Susanne Burkhard
    "Scham" am Theater Oberhausen. Vorne: Banafshe Hourmazdi. Hinten: Ingrid Sanne, Susanne Burkhard (Theater Oberhausen, Fotografin: Isabel Machado Rios)
    Eine schöne alte Eckbank aus Holz. Geranien blühen daneben. Hier treffen sich drei Frauen und drei Generationen: Die demente Großmutter, die bemüht-besorgt-spießige Mutter und die rebellische Tochter, die eigentlich ihre lesbische Frau vorstellen wollte. Akkurat wird der Kaffeetisch mit Goldrandgeschirr gedeckt, die Sahnetorte steht schon da. Ein altertümliches wie altbekanntes Szenario, rituelle Rückversicherung auf gemeinsame Geschichte, gemütlich und muffig zugleich.
    Im Theater Oberhausen steht die Eckbank allerdings auf Rollen – und wird sich bald empfindlich verschieben. Binnen Kurzem geht die stereotype Schmalspur-Konversation bei Autorin Claudia Tondl in eine Sprache über, die das in der Familie nie Gesagte hörbar macht.
    "Das ist aber eine hübsche Bluse. "Die hast du mir geschenkt." - "Wie geht es dir?" - "Hungrig bin ich." - "Und vor aller Augen liegt dieser Kuchen – flach und zerstört und hält nicht zusammen was er zusammen halten soll an diesem Nachmittag. Weil meine Liebe zwischen all diesen fremden Zutaten noch nie Platz gefunden hat." - "Und auf einmal weiß ich, dass zwischen uns dieses Dazwischen weil ich dir mein Innenleben mein Leben lang erspare.. um dich nicht zu überforden mit Nähe.."
    Tief verborgenes Familiengeheinmis
    Immer wieder wird die Ausgangsszene in kleinen Varianten wiederholt, immer stärker gerät sie aus den Fugen. Zu Beginn zieht sich die demente Großmutter bis auf den fleischfarbenen Anzug unter dem Blumenkleid aus, um sich Sahnetorte in die Scham zu schmieren. Genervt-geekelt wird sie gesäubert, bis die Sahne ins Publikum spritzt. Dann stopft die zuerst so freundlich bemühte Tochter ihrer Mutter wütend Sahnetorte ins Gesicht.
    Doch woher kommt die Entfremdung? Zunächst wirken die Familienverwerfungen in der Inszenierung von Ulrike Günther aufgesetzt und klischeehaft. Doch bald schon schält sich aus den immer stärker gesprochenen Subtexten ein Familiengeheimnis heraus, das weit über den abwesenden Vater, die abwesende und vielleicht getrennte und vergewaltigte Geliebte oder Generations-Missverständnisse hinausgeht:
    "Und ihr könnt mich nicht hören, weil Mutter im Urlaub und Großmutter im Garten. Untenrum nackt- und ich konnte es dir gar nicht sagen. Dass wir zu zweit in dem engen Raum – und ich soll drinnen aber mucksmäuschen…"
    Schuldgefühl und Körperfeindlichkeit
    Natürlich kann man sich fragen, ob das Thema sexueller Missbrauch auf der Bühne nicht schon überthematisiert wurde. Dennoch gelingt der 1980 in Wien geborenen Claudia Tondl mit ihrem Stück "Scham" Erstaunliches: immer mehr legen sich, fast schon wie im Krimi, die inneren Schichten der Geschichte frei. Zwischen den wenigen Worten der Autorin öffnen sich poetische Leerstellen, die tiefe Einblicke in die Figuren gewähren. Zudem erhebt sich in dem kurzen Stück klar die Perspektive der Frau: Jene Scham, über Sexualität nicht sprechen zu können oder zu wollen, hat auch etwas mit Schuldgefühl und weiblicher Körperfeindschaft zu tun.
    Dennoch, das lassen die im Stück eingebauten Brüche ahnen, scheint das Schweigen überwindbar zu sein. Regisseurin Ulrike Günther inszeniert sie klug, Ingrid Sanne, Susanne Burkhard und Banafshe Hourmazdi spielen sie famos, etwa wenn sie über einen Vibrator sprechen, den die Großmutter meint, um den Hals zu tragen – es aber auch der Notrufknopf sein könnte.
    Buchstäblich nackter machen sich die drei von Szene zu Szene voreinander – es reicht aber völlig, sie in fleischfarbenen Anzügen zu zeigen. Es müssen hier keine Brüste wippen. Zum Schluss ziehen sich die drei Frauen glitzernde Ballettkostüme an und drehen sich wild über die Bühne: Das Sprechen des Ungesagten ist eine Befreiung. "Das sollten wir öfter machen", sagt die Mutter – und es klingt echt. So kann es sein, das weibliche Erzählen auf dem Theater.