Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Tag drei beim Bachmannwettbewerb
Der große Gruß

Tiere, Hass und Befindlichkeit sind die Schlagworte des dritten und letzten Lesetags. Wütend startet Lydia Haider ins Rennen, gefolgt von einer Mauswerdung bei Laura Freudenthaler – am Ende kommt Meral Kureyshi zum Anfang allen Erzählens: mit "Adam".

Von Christoph Schröder und Jan Drees | 20.06.2020
    Blick in die Bibliothek im Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden.
    Die vorgelesenen Stücke waren teilweise effekthaschend, teilweise souverän erzählt (Symboldbild) (picture alliance/dpa/Robert Michael)
    "Ohne Kitsch und Pathos stellen wir uns auf, kreisrund würde mancher vielleicht sagen, und ziehen raus unsre Puffen und die großen MGs aus den Jacken und Kleidern da hervor und laden nicht, denn geladen ist längst, drum brauchen wir nur abzudrücken und das tun wir auch und schauen ihm noch in die Augen und nicken uns zu im Kreise zu viert und schießen das Hundsvieh nieder, lassen rattern so lang hin bis es zerflettert und aufgemacht, verteilt ist in der ganzen Gasse..."
    Mit Wut und lautmalerischem Elan startete an diesem Tag die von Nora Gomringer eingeladene Lydia Haider in den Bachmann-Wettbewerb. Sie präsentierte mit "Der große Gruß" eine verstörende, aus nur einem Satz aneinandergereihte Suada, in der Tiere gemetzelt, Faulbrut betrachtet, Hundstrümmerlandschaften gezeigt werden. Doch Rausgeschrienes funktioniert nicht mehr in Klagenfurt.
    Die Jury ließ sich nicht provozieren, hatte man da doch alles schon gesehen: das Blut und die Wut bei Rainald Goetz 1983, der "Babyficker"-Text des Schweizers Urs Allemann 1991. Und als nach der Jurydiskussion eine lärmende Entourage hinter der Autorin auftauchte, war das zwar unterhaltsamer, als das von Philipp Weiss aufgegessene Manuskript 2009, doch man versteht sogleich den Kommentar des Jurors Klaus Kastbergers: "Also, ich find, das war brillant zusammengefasst, was die Schwächen des Textes sind. Vielleicht geht er auch im eigenen Jubel unter."
    Das ist ein Verbrechen
    Dagegen war "Der heißeste Sommer" von Laura Freudenthaler – eingeladen von der neuen Jurorin Brigitte Schwens-Harrant – ein souverän erzähltes Gegenstück, das seinen Plot langsam entfaltet und von einer Frau berichtet, die eine verletzte Lippe hat, weshalb sie gleich zu Beginn bekennt: "Der heißeste Sommer seit Beginn der Aufzeichnungen ist mein schweigsamster."
    Aus diesem Schweigen kommt sie zum Erzählen, berichtet vom Blut – das übrigens ein permanenter Bachmannpreis-Begleiter ist, seit bei der ersten Ausgabe Marcel Reich-Ranicki die Kandidatin Karin Struck unnötigerweise zum Weinen erschütterte mit den harschen Worten: "Das ist ein Skandal, wie sie schreibt. Wen interessiert schon, was die Frau denkt, was sie fühlt, während sie menstruiert? Das ist keine Literatur – das ist ein Verbrechen."
    Freudenthalers im besten Sinne konventioneller Text kommt ohne ein erzähltes Verbrechen aus – und bis zur letzten Seite bleibt ungelöst, weshalb ihre Unterlippe verletzt ist, ob sie einen gewaltsamen Übergriff erlebt, ob sie sich möglicherweise selbst verletzt hat. Jedenfalls wird sie die Wunde stets aufs Neue abnagen während dieses heißen Sommers mit seinen Bränden und der obligatorischen Mäuseplage. Es explodieren zwar "hunderte Minen und Granaten aus dem zweiten Weltkrieg", aber Freudenthalers Text lässt sich nicht von dieser erzähltechnisch verführerischen Detonation sprengen. Es ist nicht nur "Der heißeste Sommer", sondern auch der heißeste Kandidat auf den Morgen am Vormittag verliehenen Bachmann-Hauptpreis.
    Viel Zeit bleibt nicht
    Auf Einladung von Philipp Tingler las die 1982 geborene Katja Schönherr ihren Text "Ziva", der eine Entgleisung im engen familiären Rahmen inszenierte. Die Ausgangslage ist geradezu klassisch: Ein Paar besucht anlässlich des Geburtstages der kleinen Tochter den Zoo. Doch schon der erste Satz verdeutlicht, dass hier etwas aus dem Ruder läuft: "Rückblickend könnte man sagen, wir hätten uns von dem Orang-Utan-Weibchen nicht provozieren lassen sollen." Die Ich-Erzählerin und Mutter des Kindes ist überzeugt davon, dass sie nicht mehr lange zu leben habe – sowohl ihre Mutter als auch ihre Großmutter sind im Alter von 43 Jahren gestorben. Viel Zeit bleibt da nicht mehr.
    Die Situation im Zoo eskaliert, als das der Erzählung ihren Titel gebende Orang-Utan-Weibchen Ziva ein Stück Pappe in die Luft hält, auf die in dicken schwarzen Lettern eine Botschaft geschrieben steht. Das bringt Aufruhr unter die Zoobesucher. Welche Botschaft genau dort zu lesen ist, verrät Schönherrs Text nicht. Doch die Szene ist letztendlich dafür verantwortlich, dass die feinen Risse im Familiengefüge breiter werden.
    Erinnert an Ephraim Kishon
    Ein Aufruf zum Aufstand? Eine Emanzipationsgeschichte? Die Jury ging erstaunlich wohlwollend mit Schönherrs Wettbewerbsbeitrag um. Philipp Tingler ergriff unüblicherweise als Erster das Wort und lobte den von ihm eingeladenen Text als subversives Produkt einer unzuverlässigen Erzählerin. Insa Wilke gefiel die Doppelbödigkeit der "amüsanten Geschichte", während Hubert Winkels sich an Ephraim Kishons Satiren erinnert fühlte, die sehr einfach gebaut seien und in denen schnell alles weggeschmunzelt werde. Klaus Kastberger las den Text als Allegorie auf den Bachmann-Wettbewerb: In der Mitte des Käfigs säße jemand und halte ein Schild in die Höhe.
    Zum Abschluss der 44. Tage der deutschsprachigen Literatur las auf Einladung von Michael Wiederstein die in Prizren/Kosovo geborene Autorin mit Meral Kureyshi. In ihrem aus Gegenwarts- und Kindheitsclips zusammengeschnittenen Film sagte sie den bemerkenswerten Satz, Deutsch sei ihre Muttersprache, aber ihre Mutter spreche kein Deutsch. Kureyshis Beitrag "Adam" ist wiederum eine Ich-Erzählung, in diesem Fall aus der Perspektive einer jungen Frau, deren Weltwahrnehmung diffus, zersplittert und wie durch den Filter einer Linse fokussiert ist, die sich innerhalb kurzer Zeit scharf stellen kann, um unmittelbar darauf die Welt wie entrückt wahrzunehmen.
    Der Preis – ein Museum
    Ein Wechsel zwischen Zoom und Distanzierung, in der alle Beobachtungen und Reflexionen gleichrangig sind. Es geht um ein Museum, in dem die Ich-Erzählerin als Aufseherin arbeitet; um zwei Männer, Adam und Manuel, und um den Vater der Ich-Erzählerin, der bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist: "Manchmal rufe ich meinen Vater noch an, sobald es klingelt, lege ich wieder auf. Seine Nummer ist neu vergeben worden. Jemand ruft mich jedes Mal zurück, und ich gehe nicht dran." Eine Welt, die, wie es im letzten Satz heißt, schwarzweiß ist, "nicht nur, wenn es schneit."
    Juror Klaus Kastberger erkannte in Meral Kureyshis Text eine "Befindlichkeitsprosa", die irgendwo anfange und nirgendwo aufhöre; Insa Wilke kam der Text vor "wie ein schwacher Händedruck". Michael Wiederstein verteidigte den Beitrag als eine Coming-of-Age-Geschichte, deren Stil genau jene Perspektive auf die Welt abbilde, die ein junger Mensch nun einmal habe. Brigitte Schwens-Harrant kritisierte die Beliebigkeit des Schauplatzes, der verschenkt sei: "Warum muss das in einem Museum spielen?"