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"Tage des letzten Schnees"
Begegnungen mit dem Schlimmstmöglichen

Zwangsprostitution, der Tod eines Kindes, ein Amoklauf - es ist viel, was Jan Costin Wagner in seinem neuen Roman "Tage des letzten Schnees" thematisiert und verschmelzen lässt. Mittendrin ist wieder sein melancholischer finnischer Kommissar Kimmo Joentaa.

Von Ralph Gerstenberg | 19.09.2014
    Schneesturm in Helsinki
    Ein Schneesturm in Helsinki - In "Tage des letzten Schnees" gelingt es Wagner trotz allem, ein lebensbejahendes Gesellschaftsporträt zu entwerfen. (picture alliance / dpa / Lehtikuva Martti Kainulainen)
    Ein Unfall im Schnee, bei dem ein Mädchen ums Leben kommt, ein Banker, der eine Affäre mit einer Prostituierten beginnt, ein Schüler, der auf einen Amoklauf zusteuert - diese drei Handlungsstränge sind im neuen Roman von Jan Costin Wagner miteinander verwoben. Auch im fünften Buch mit dem finnischen Kommissar Kimmo Joentaa konfrontiert Wager seine Figuren also mit dem Schlimmstmöglichen, zum Beispiel mit dem Tod eines Kindes.
    "Das ist wirklich der Ansatz bei mir, die Protagonisten mit dem Schlimmstmöglichen zu konfrontieren, aber eben mit dem positiv ausgerichteten Ziel, eine Sprache für eine mögliche Bewältigung zu finden. Deswegen empfinde ich die Romane als sehr warmherzig und traurig - ja, das ist dieses Buch bestimmt, aber es ist nach vorne gerichtet, es geht nicht darum, in dieser Traurigkeit zu verharren. Dafür steht ja Kimmo ganz explizit. Er lernt ja weiterzuleben."
    Verständnisvoller Kommissar
    Kimmo Joentaas Frau ist vor Jahren an Krebs gestorben. Wie er mit diesem Verlust umgeht, davon handelt "Eismond", Jan Costin Wagners erster Roman der Kimmo-Joentaa-Reihe. Auch in den folgenden Büchern kehrt Joentaa in Gedanken immer wieder zu seiner Frau zurück. Der Verlust hat sein Leben grundlegend verändert. Mit dieser Erfahrung ist er nicht nur Ermittler, sondern zugleich auch eine Art Begleiter von Trauernden, die die furchtbare Tatsache des plötzlichen Todes eines nahe stehenden Angehörigen erst in ihrer Endgültigkeit begreifen müssen. In "Tage des letzten Schnees" stirbt ein Mädchen bei einem Crash auf der Landstraße. Der Verursacher des Unfalls flieht vom Tatort. Zu allem Überfluss stellt sich heraus, dass das Mädchen nicht angeschnallt war. So sind die Eltern allein mit ihrer Trauer, ihrer Wut und ihren Schuldgefühlen. Nur Kimmo Joentaa scheint sie zu verstehen.
    "Was ich sehr mag an dieser Romanfigur, ist, dass er über die Romane hinweg aus dem Verlust, weil seine Frau Sanna an Krebs stirbt im ersten Roman, dass er aus diesem Verlust eine Kraft schöpft, so eine warmherzige, unkonventionelle Sicht auf das Leben, die ihn in die Lage versetzt, Menschen zu helfen oder für sie da zu sein und zuzuhören und diese Geduld aufzubringen, sich darauf vollkommen einzulassen, wenn andere dann vielleicht lieber wegsehen und sagen ‚Oh, mit denen möchte ich jetzt nichts zu tun haben, die trauern' dann ist er voll da. Und das mag ich an diesem Kimmo so gern."
    Gedankenblitze torpedieren die Erzählung
    In Jan Costin Wagners Büchern gibt es immer auch Leerstellen, Raum für Unausgesprochenes, atmosphärische Schilderungen, die den unverwechselbaren Sound seiner Sprache ausmachen. Gedankenblitze torpedieren die Erzählung, geben ihr eine unerwartete Richtung. In "Tage des letzten Schnees" findet auch die Sprache des Internets mit seinen Foren und Plattformen Eingang, auf denen sich radikalisierte Jugendliche über Ballerspiele und Gewaltfantasien austauschen. Der Schüler Unto plant einen Amoklauf. Im Internet spricht er ganz offen über seine menschenverachtenden Ideen. Jan Costin Wagner hatte schon eine ganze Weile mit dem Gedanken gespielt, die Genese eines Amoklaufs in einem Roman zu beschreiben. Das Attentat von Anders Behring Breivik 2011 in Norwegen und dessen positive Resonanz auf einschlägigen Websites gaben den letzten Impuls für die Geschichte eines sich rasant radikalisierenden Teenagers.
    "Gleichzeitig ging es mir darum, das in Sprache zu bringen, wie jemand empfindet, der tatsächlich so denkt, der tatsächlich sich diese Tat und diesen Menschen auserwählt, um sich da ein Vorbild zu nehmen. Das ist so schwer fassbar. Genau deshalb, weil es so schwer fassbar ist, wollt ich es eben in Sprache bringen. In jedem Fall ging es mir darum, zu erzählen, wie er sich immer mehr entfremdet von den Menschen, die ihm noch helfen wollen, speziell seine Schwester Mari, die versucht, noch einzugreifen. Die das begreift, was passiert, wohin er steuert. Und auch zu erzählen, wie sie daran scheitert. Ich glaube, das ist sehr wichtig. Wenn man dafür ein Bewusstsein entwickelt, dann kann man vielleicht über dieses Begreifen und das sich Hineindenken präventiv wirken. Das ist der Antrieb, der diesen Erzählstrang prägt."
    Alles verschmilzt
    In einer dritten Parallelhandlung geht es um den verheirateten Börsianer Markus Sedin, den eine unerfüllte Sehnsucht in die Arme der Prostituierten Réka treibt. Er folgt der Frau in ihre rumänische Heimat, holt sie raus aus der Armut und finanziert ihr ein Leben in Finnland. Eines Tages ist sie tot, erschossen in Sedins Appartement, ebenso wie ihr aus Rumänien nachgereister Zuhälter. Zwangsprostitution, der Tod eines Kindes, ein Amoklauf - es ist viel, was Jan Costin Wagner in seinem neuen Roman thematisiert. Seinem schriftstellerischen Talent ist es jedoch zu verdanken, dass die Geschichte nicht auseinanderfällt. All das, was kaum miteinander vereinbar scheint, geht in der Erzählung, den Charakteren, der leisen, nuancierten Sprache auf, fügt sich in der Montage der einzelnen Elemente zu einem kunstvollen Ganzen.
    "Für mich ist es immer wichtig, dass ich das Gefühl hab, dass alles zu einem verschmilzt, alle Facetten auch der Geschichte, die Figurenzeichnungen, die Grundemotionen, die der Schauplatz auch in sich trägt. Wobei Finnland für mich so ein universeller Ort ist. Also eine grundlegend menschliche Geschichte und erzählt an diesem grundlegenden Ort Finnland - für mich eben auch grundlegend, weil es meine zweite Heimat ist. Und wenn ich dieses Gefühl habe, dass das alles miteinander verschmilzt zu einem Erzählkern, dann ist das das Schönste, was passieren kann."
    Tatsächlich ist Jan Costin Wagner bis hin zum dramatischen und überaus überraschenden Ende ein großartiger, ein souveräner, ein bewegender Roman gelungen - ein vorläufiger Höhepunkt seiner Kimmo-Joentaa-Reihe. Trotz seines melancholischen Grundtons und der existenziellen Erschütterungen, die darin geschildert werden, gelingt es Wagner, ein lebensbejahendes Gesellschaftsporträt zu entwerfen, in dem er zeigt, wie sich Trauer und Glück, Zufall und Schicksal gegenseitig bedingen. Dass sein Buch auch als Kriminalroman bestens funktioniert, ist dabei eher nebensächlich.
    Jan Costin Wagner: "Tage des letzten Schnees",
    Galiani Berlin, 320 Seiten, 19,99 Euro.