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Tagesnachrichten für Taubblinde
Die kleinste Tageszeitung Deutschlands

Taubblinde Menschen haben es schwer, an aktuelle Nachrichten zu kommen. Für die rund 1.500 Seh- und Hörbehinderten in Deutschland werden deshalb seit 30 Jahren in Berlin die Tagesnachrichten für Taubblinde herausgegeben. Doch die Leserzahlen sinken, auch weil das Internet Konkurrenz macht.

von Jan Schilling | 27.03.2018
    Reiner Delgado, Sozialreferent beim Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband, mit einer Ausgabe der Tagesnachrichten für Taubblinde
    Reiner Delgado mit einer Ausgabe der Tagesnachrichten für Taubblinde. (Deutschlandradio / Jan Schilling)
    "So, jetzt bin ich zu den Ergebnissen gesprungen, da steht jetzt 'Deutschlandfunk – alles von Relevanz'. Da klicke ich jetzt mal drauf. Und jetzt haben wir anscheinend hier die Seite."
    Vor Katrin Dinges öffnet sich die Seite des Deutschlandfunks. Aufmacherthema heute: Kehlmanns Äußerungen über Geflüchtete. Kultur - genau das Thema der 32-Jährigen. In den letzten Wochen ist sie allerdings kaum zum Lesen gekommen, denn sie schrieb an ihrer Bachelor-Arbeit in Deutscher Literatur. Zudem engagiert sich Katrin Dinges als inklusive Kunstvermittlerin.
    "Ich kann ja mal weiterklicken zu Kultur, wenn ich das wiederfinde. Das wäre etwas, was mich interessiert. Wirtschaft, Wissen, Kultur. Jetzt braucht der etwas, oder es hat sich gar nicht verändert, oder es hat sich weiter unten etwas verändert. Ahh...ja, das könnte sein."
    Zeitung versorgt Taubblinde mit aktuellen Nachrichten in Brailleschrift
    Tatsächlich hat sich vor Katrin Dinges eine neue Seite geöffnet, doch das sieht sie nicht. Sie ist taubblind. Für taubblinde Menschen gibt es in Berlin die Tagesnachrichten für Taubblinde. Von Montag bis Freitag versorgt die Zeitung taubblinde Menschen in der Bundesrepublik mit aktuellen Nachrichten, gedruckt in Brailleschrift.
    "Also für Taubblinde ist Brailleschrift, wenn sie gar keinen verwertbaren Hörrest mehr haben, um Sprache zu hören, der einzige Zugang zu Informationen."
    Reiner Delgado ist Sozialreferent beim Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband, kurz DBSV. Der 47-Jährige ist selbst blind. Er erklärt, dass Taubblinde bei der Nachrichtenbeschaffung oft auf Hilfe angewiesen sind.
    "Man kann sich direkt noch etwas erzählen lassen, da gibt es Fingeralphabete und taktile Gebärdensprache, aber um mir selbstständig etwas durchzulesen, da brauche ich die Brailleschrift. Und da sind jetzt die Tagesnachrichten so ein kleiner Ausschnitt."
    Nur noch 60 Menschen lesen die gedruckte Ausgabe
    Selbstbestimmung sei das, unterstreicht Katrin Dinges. Früher habe die Zeitung etwa 120 Abonnenten gehabt. Heute lesen nur noch 60 Menschen die gedruckte Ausgabe und etwa zehn Taubblinde den E-Mail-Newsletter. Das sind etwa drei Prozent der Zielgruppe. Eine mögliche Erklärung für den Abonnentenschwund ist der demografische Wandel und das Internet.
    "Es kommen nicht mehr so viele junge nach. Und da merkt man das schon, dass eben taubblinde Menschen, sich jetzt einfach selber den Deutschlandfunk Nachrichten-Newsletter bestellen und das dann auch am Computer lesen können."
    Zudem: Taubblinde sind teilweise von Geburt an so stark beeinträchtig, dass sie nicht in der Lage sind die Brailleschrift zu lernen. Menschen, die im Alter erblinden und schwerhörig werden, lernen die Brailleschrift auch nur noch selten. Katrin Dinges nennt weitere Gründe, weshalb so wenige die Tagesnachrichten lesen. Da ist die mangelnde Aktualität.
    "Einfach dadurch, dass es erst zusammengestellt, dann gedruckt und dann verschickt werden muss, hinkt es dem aktuellen Geschehen immer einen Tag hinterher, bzw. dann eben auch ein Wochenende."
    Immer mehr Taubblinde holen sich Nachrichten aus dem Netz
    Deswegen gilt mittlerweile auch bei den Tagesnachrichten "Online First", tagesaktuell wird ein E-Mail-Newsletter versendet. Diesen können Taubblinde mit besonderen Hilfsmitteln lesen. Zum Beispiel einer Tastatur, die Braillezeichen ausgibt. Die Zeitung informiert vor allem über Innen-, Außenpolitik und Sport.
    "Ich interessiere mich eher für kulturelle Nachrichten oder Sachen, die in der Wissenschaft herausgefunden wurden oder mit meinen Studienfächern Literatur oder Kulturanthropologie zu tun haben. Und das gibt es da eben nicht."
    Auch deshalb liest Dinges die Zeitung nicht mehr. Sie holt sich ihre Nachrichten aus dem Netz. Mit Schwierigkeiten. Katrin Dinges erklärt, wie sie im Gegensatz zu sehenden Menschen eine Nachrichtenseite wahrnimmt.
    "Links sind irgendwelche weiterführenden Sachen innerhalb der Homepage. In der Mitte ist der Text. Und rechts sind noch einmal weiterführende Links. Für mich sieht das aus als hätte jemand eine Schere genommen, diese drei Spalten auseinandergeschnitten und untereinander geklebt. Das heißt ich muss ewig scrollen bis ich zum Text komme. Es sei denn, es gibt einen Button 'Skip to content'."
    Tagesnachrichten sind wichtig - aber nicht für jeden
    Die 32-Jährige ist wieder auf der Seite des Deutschlandfunks, auch hier braucht sie viel Geduld.
    "'Debatte um Schriftsteller Uwe Tellkamp'. Dann geht es weiter...'Ächtung der unliebsamen Meinung'. Das ist dann wahrscheinlich die Unterschrift. Aber das klebt hier zusammen als wäre das ein Wort. Als würde da stehen Tellkampächtung."
    Barrierefreiheit sähe anders aus. Taubblinde Menschen sind zudem auf die Kennzeichnung von verschiedenen Überschriften angewiesen, um schnell zu den wichtigen Inhalten zu kommen. Oder darauf, dass die Bilder beschrieben werden.
    "Es geht ja nicht nur um strukturelle Probleme, sondern auch um Inhalte, zum Beispiel in leichter Sprache."
    Genau hier punkten die Tagesnachrichten für Taubblinde wieder. Die Macher übersetzen die Nachrichten in eine leichtere Sprache und strukturieren sie. Die Tagesnachrichten sind ein wichtiges Informationsmedium, findet Aktivistin Dinges – aber eben nicht für jeden.