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Tagesstätte in Berlin
Ein sicherer Ort für obdachlose Frauen

Obdachlose Frauen brauchen vor allem einen Schutzraum, an dem sie Unterstützung und Ruhe finden. Denn viele von ihnen machen im Laufe ihres Lebens auf der Straße Gewalterfahrungen. Die Zahl wohnungsloser Frauen steigt in Deutschland seit Jahren - umso wichtiger werden Tagesstätten und Notunterkünfte nur für Frauen.

Von Anja Nehls | 17.12.2018
    Eine Frau sitzt in einem Zimmer der "Notübernachtung für Frauen" am Donnerstag (11.12.2008) in Berlin beim Tag der offenen Tür auf ihrem Bett.
    Sicherheit und Austausch - nicht nur das bietenTagesstätten für obdachlose Frauen an (picture alliance / Stephanie Pilick)
    Frühstück bei Evas Haltestelle in Berlin. In einer großen Wohnung im Erdgeschoss im Bezirk Wedding sitzen knapp 20 Frauen an zwei großen Tischen. Die meisten von ihnen sind wohnungslos, leben in Unterkünften für Obdachlose oder sogar ganz auf der Straße. Nur ansehen soll man ihr das nicht, erklärt Sylvia, die heute an der Stirnseite sitzt, rosa Pulli, tipp-top frisiert.
    "Wenn man wirklich Wert drauf legt, es ist umständlich und es ist schwierig, aber man kann trotz allem gepflegt und sauber rumlaufen und wenn man im Krankenhaus sich auf einer Besuchertoilette die Haare wäscht, da hat man wenigstens warmes Wasser, in den Wall Toiletten ist das Wasser immer kalt."
    Wohin am Tag, wenn es kalt ist?
    Die Wall Toiletten sind die öffentlichen WCs in Berlin. Pro Benutzung kosten sie 50 Cent, warmes Wasser bieten sie nicht, häufig sind sie dreckig. Eineinhalb Jahre lebte Sylvia auf der Straße, schlief auf Parkbänken oder in Notunterkünften. Zur Zeit lebt sie in einem Wohnheim für Obdachlose im Berliner Norden. Zu Evas Haltestelle kommt sie regelmäßig.
    "Damals war ich jeden Tag da, weil man aus den Notunterkünften spätestes um acht morgens raus muss und abends um sieben erst wieder rein, was macht man denn den ganzen Tag?"
    Hier können sich obdachlose Frauen tagsüber aufwärmen und essen, Spiele spielen, wer möchte, findet Hilfe und Beratung und nachts gibt es für 20 Frauen im Rahmen der Kältehilfe auch einen warmen Schlafplatz. Dass die Einrichtung nur Frauen vorbehalten ist, ist ihren Gästen wichtig, sagt Claudia Peiter, die Leiterin von Evas Haltestelle:
    "Im Laufe ihres Lebens haben viele Gewalterfahrungen gemacht. Die Gewalt ist in vielen Fällen wirklich von Männern ausgegangen, sodass es für viele unserer Besucherinnen eine große zusätzliche Belastung ist, wenn sie in gemischte Einrichtungen gehen müssen."
    Frauen immer häufiger obdachlos
    Unter den Obdachlosen steigt der Anteil der Frauen seit Jahren. In den 1990er-Jahren waren noch 15 Prozent der Obdachlosen in Deutschland weiblich, inzwischen sind es 25 Prozent, so eine Statistik der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe: In ihrer Einrichtung steige vor allem der Anteil der älteren Wohnungslosen meint Claudia Peiter. Altersarmut sei der wichtigste Grund.
    "Dass die Renten gerade nach Teilzeit oder Kindererziehungszeiten nicht sehr groß sind und dann gerade in so Ballungsgebieten wo günstiger Wohnraum knapp ist, wo man sich dann nicht einfach verkleinern kann, wenn man merkt, die Rente reicht jetzt nicht mehr und der Umzug in was Günstigeres ist dann einfach nicht so schnell zu bewerkstelligen, als dass nicht in der Zeit schon Mietschulden auflaufen können."
    Ungefähr 2.500 obdachlose Frauen gibt es in Berlin, aber das ist nur eine Schätzung. Die sogenannte verdeckte Obdachlosigkeit ist bei Frauen besonders hoch, so Ina Zimmermann vom Diakonischen Werk:
    "Bei Frauen sieht man nur ganz selten, dass sie wohnungslos sind, weil sie irgendwie versuchen, sich anderweitig ein Dach über den Kopf zu verschaffen oder weil sie um jeden Preis vermeiden wollen, als wohnungslos erkannt zu werden."
    Tagsüber Arbeit, nachts in der S-Bahn
    So wie Sylvia. Die 56-Jährige verlor ihre Wohnung nach einem Wohnungsbrand. Die Kaution für eine neue Wohnung konnte sie nicht aufbringen, weil ihr aus Afrika stammender Mann ohne ihr Wissen Schulden gemacht hatte. Vom Amt kam kein Geld, weil ihr Mann noch Arbeit hatte. Sie selbst half saisonweise in einer Berliner Beachbar in der Küche. Dort sollte nicht auffallen, dass sie keine Wohnung mehr hatte. Drei Wochen ging das gut, dann reichten ihre Kräfte aufgrund des Schlafmangels fürs Arbeiten nicht mehr:
    "Und dann ging im Sommer die Beachbar los und da habe ich angefangen zu arbeiten, aber dadurch, dass ich keinen Schlafplatz hatte, ich bin nachts S-Bahn gefahren und bin am nächsten Morgen arbeiten gegangen, aber und an habe ich mal einen Schlaflatz in der Notunterkunft gehabt."
    Oft genug schlief sie auch draußen auf der Parkbank - solange bis die Scheidung vollzogen war, ihr nun wieder Geld vom Jobcenter zustand und ein Platz im Wohnheim. Ihr Ex Mann ist inzwischen zurück in seiner Heimat. Viele Frauen versuchen solche Situationen alleine in den Griff zu bekommen - zu einem hohen Preis, erzählt Claudia Peiter:
    "Zu wohnungslosen Frauen gehören auch Frauen, die dann bei Freunden auf der Couch übernachten, oder bei Freunden, was auch immer man dann in dem Kontext darunter versteht. In dem Zusammenhang fällt ja auch oft der Begriff Wohnungsprostitution, also dass für den Schlafplatz eine gewisse Gegenleistung erwartet wird."
    Traumatische Erfahrungen
    Das ist Sylvia zum Glück nicht passiert. Aber die meisten ihrer weiblichen Gäste hätten traumatische Erfahrungen gemacht, sagt Ortrud Wohlwend von der Notübernachtung am Berliner Hauptbahnhof. Mehr als die Hälfte der Bewohnerinnen seien psychisch auffällig, das hat vor drei Jahren ein Träger eines Frauenwohnheims ermittelt. Ortrud Wohlwend kann das bestätigen.
    "Frauen, die auf der Straße sind haben extreme Probleme, entweder psychischer Art oder Vergewaltigung, sexuelle Übergriffe, geschlagene Frauen, die eben schon von Kindheit an immer nur das fünfte Rad am Wagen waren, wo man schon merkt, die haben nie diese Portion Mutterliebe, die einen Menschen Vertrauen in sich selber begründen lässt, bekommen."
    Sylvia ist optimistisch, dass sie ihr Leben wieder in den Griff bekommen wird. Zur Zeit wird geprüft, ob sie für ein betreutes Einzelwohnen infrage kommt. Irgendwann möchte sie auch wieder arbeiten. Ganz früher hatte sie mal eine eigene Cateringfirma. Neulich hat sie schon mal wieder einen Lachsauflauf gemacht - für die Frauen in Evas Haltestelle.
    "Also mich hat die Zeit nicht zerbrochen, mich hat sie eher stärker gemacht, ja."