Donnerstag, 25. April 2024

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Taghaus Nachthaus

Dies ist ein mysteriöses Buch. Welchem Genre soll man Olga Tokarczuks Taghaus Nachthaus zuschlagen? Und wie soll man das ganz eigene Klima der Beunruhigung beschreiben, das von diesem Buch ausgeht? Das einzig Verlässliche in ihm scheint der Schauplatz zu sein, Nowa Ruda, ein Ort im schlesischen Riesengebirge, unweit der tschechischen Grenze, bewohnt von Polen und, wie es scheint, von den Geistern der vertriebenen Deutschen. Niemals verlässt der Roman (aber ist es ein Roman?) den Bannkreis der Verhältnisse in Nowa Ruda und seiner allerengsten Umgebung. Aber für eine Erzählerin wie Olga Tokarczuk ist das allemal Welt genug. Man könnte ihre Provinz unheimlich, ihre Idyllen negativ nennen, wenn einem diese Begriffe nicht allzu harmlos erschienen. Eher schon drängt sich dem Leser ein Beispiel aus der bildenden Kunst auf: Gregor Schneiders "Haus ür", jenes selbst entworfene Geisterhaus mit rotierenden Achsen und schalldichten Räumen. Dass Olga Tokarczuks erster Roman den Titel "Ur und andere Zeiten" trug, mag Zufall sein. Aber auch aus ihrer Welt gibt es keine Ausgänge. Taghaus und Nachthaus erscheinen wie kontaminiert von einem Virus, der unsere ältesten Ängste und Phobien anspricht.

Christoph Bartmann | 06.02.2002
    Zwei Frauen erzählen sich Geschichten aus dem ländlichen Grenzland, und weil ihre Geschichten wie Maschen fallengelassen und wieder aufgenommen werden, meint man, man schaue einer weiblichen Handarbeit zu. Hier wird gewoben, vielleicht auch gestrickt oder gehäkelt, und am Ende ist ein Text entstanden. Marta heißt die eine, die ältere der beiden Frau vom Lande. Sie ist Perückenmacherin und versteht sich auf mindestens noch zwei Dinge: auf Pilze und auf Typologien. Warum sammeln die Menschen keine Fliegenpilze? Weil sie die Pilze in giftig und essbar unterscheiden statt in schön und hässlich. "Die Menschen", sagt Marta, "sehen, was sie sehen wollen, und am Ende kriegen sie das, was sie wollen. Klare, aber falsche Unterteilungen. In der Welt der Pilze jedoch ist nichts sicher." Tokarczuks Welt ist eine Pilz-Welt. "Psychedelisch" nennt sie einmal ihre Erfahrung, und tatsächlich, Drogen, Erleuchtungen und esoterisches Wissen spielen in ihr eine zentrale Rolle. Wobei der Effekt des Psychedelischen dadurch nur gesteigert wird, dass es statt in der Großstadt in ländlicher Einöde angesiedelt ist.

    Pilze, giftige zumal, sind ein Thema, Typologien, vor allem phantastische, ein anderes. "Marta entwickelt eine Typologie", heißt eines der kurzen Kapitel, und Martas These darin lautet, die Menschen würden auf die Dauer der Erde ähnlich, auf der sie leben. "Dort, wo der Boden locker und sandig ist", meint Marta, "kommen kleine, schmale Menschen zur Welt, die eine trockene, helle Haut haben". Und so weiter. Was für ein Typ sie selbst sei, will die Ich-Erzählerin am Ende von Marta wissen. "Solche Regeln denkt man sich immer nur für andere aus", gibt Marta zur Antwort. "Das Schloss" heißt dann das nächste Kapitel - vielleicht muss man auch wegen dieses Titels an Kafka denken und an eine Schreibweise, die dem Leser den Boden unter den Füßen wegzieht, die ihn im Zustand des Taumels entlässt. In Tokarczuks Erzählphantasie findet man vielerlei Einflüsse, die man ,osteuropäisch' nennen könnte: Kafkas Reduktionen an den Nullpunkt, die bodenlosen Enzyklopädien des Danilo Kis, die Fieberträume mancher Ungarn wie Laszio Darvasi - das Buch müsste gar nicht in Nowa Ruda spielen, um seine Verbundenheit mit dieser östlichen Welt in jedem Satz zu manifestieren. Ist das "magischer Realismus"? Ist das "wildes Denken"? Jedenfalls legt das Buch der studierten Psychologin Olga Tokarczuk ein Maß an schlafwandlerischer Intuition, an finsterem Witz und literarischer Souveränität an den Tag, über das man nur staunen kann. Weltliteratur findet eben meistens dort da statt, wo man sie am wenigsten vermutet, zum Beispiel im schlesischen Waidenburg, wo Tokarczuk heute lebt und ihren eigenen Verlag betreibt.

    Es sind sehr sonderbare Charaktere, mit denen man im Lauf des Buches Bekanntschaft macht, allen voran die von der Volksfrömmigkeit verehrte und von der Kirche gemiedene Kümmernis von Schonau. Sie hat ihr Leben dem Herrn Jesus geweiht, und dieser hat ihr, um sie vor den Nachstellungen irdischer Freier zu bewahren, sein eigenes Aussehen mitsamt seinem eigenen Bart verliehen. Die örtliche Heiligenvita mit ihren gnostischen Untertönen, das ist ein Tag- und Nacht-Stoff, der für Tokarczuks Einbildungskraft wie geschaffen scheint: volkstümlich, schauerlich und abseitige Wie ein kollektiver böser Traum (oder "wie Träume nach einem Pilzgericht) erscheinen die gelassen aneinander gereihten Legenden all der seltsamen Heiligen in Tokarczuks Buch. Die moritatenähnlichen Geschichten von Männern wie Marek Marek, Franz Frost und Ergo Sum, und die lakonisch traurigen Berichte von allerlei Todesarten im Grenzland. Was könnten Martas Todesarten sein, fragt sich die Erzählerin einmal, als sie der Alten beim Teigwalken zuschaut. "An welcher Stelle wird der Tod in ihren Körper eindringen?" Durch die Augen? Durch die Ohren? Durch die Nase? Durch den Mund? "Marta kann einen wurmigen Apfel essen, eines dieser dunkelroten Äpfelchen aus ihrem alten Garten, einen Apfel mit dem weißen Ei des Todes im Inneren." Der wird, denkt sie, Marta von innen aushöhlen, und ihre zerbrechlich gewordene Schale wird dann eines Tages "beim Rütteln am defekten Schloß der Gartenpforte" bersten.

    So sind Tokarczuks Einfälle, grausam und hellsichtig wie die alten Märchen. Dabei ist dies, wenngleich man es manchmal ganz vergisst, ein Buch aus der Gegenwart, "Träume aus dem Internet" reihen sich nahtlos an "Kosmogonien" - und an Pilzrezepte. Wie wäre es mit Fliegenpilztorte? Oder mit einem süßen Nachtisch aus Bovisten? Sollte man die Pilze nicht besser nach solchen unterscheiden, die "zur Sünde verleiten, und solchen, die von Sünden befreien?" Es gibt keine giftigen Pilze, sondern nur falsche Unterscheidungen, das ist eine der vielen Sachen, die man aus Olga Tokarczuks Buch lernen kann.