Dienstag, 19. März 2024

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Tagung des Deutschen Historischen Instituts in Litauen
Die Rettung jüdischer Kinder im Holocaust

Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden vereinzelt immer wieder jüdische Kinder versteckt. Das war auch so während der NS-Besatzung in Osteuropa und im Baltikum. Es waren private Bürger, die solche Rettungsaktionen veranlassten, wie eine Tagung des Deutschen Historischen Instituts in Litauen zeigte.

Von Martin Sander | 01.07.2018
    Eine jüdische Familie flüchtet unter dem Gelächter von Wehrmachtssoldaten
    Eine jüdische Familie flüchtet unter dem Gelächter von Wehrmachtssoldaten (picture alliance / dpa / UPI)
    Ein Garagenhof mitten in Kaunas: Neben parkenden Autos gedenken einige Menschen der Judenmorde nach Einmarsch der Deutschen in Litauen Ende Juni 1941. Ein paar Häuser entfernt treffen sich Forscher aus verschiedenen Ländern, um über versteckte Kinder im Holocaust zu diskutieren:
    "Wir haben festgestellt, dass dieses Phänomen der versteckten jüdischen Kinder ja in vielen europäischen Ländern zu finden war, in Holland, Frankreich, Belgien, aber eben auch im östlichen Europa. Wir wollen versuchen, diese Perspektiven zu verbinden, bisher werden diese Geschichten vor allem immer in einem nationalen Kontext erzählt."
    Ruth Leiserowitz, Osteuropahistorikerin, stellvertretende Leiterin des Deutschen Historischen Instituts Warschau. In Kaunas ging es um politische Hintergründe, Einzelschicksale und organisatorische Gemeinsamkeiten bei der Rettung von Kindern.
    "Dahinter stehen immer private Netzwerke. Vor allem stehen dahinter immer auch Bürger mit zivilgesellschaftlichem Engagement, wie wir das heute sagen würden."
    Überleben durch ein Netz von Helfern
    Zum Beispiel das Ghetto von Kaunas: Hier wurden auch gezielt Kinder erschossen. Deshalb entschieden sich viele jüdische Eltern, die für sich kaum eine Überlebenschance sahen, ihre Kinder in fremde Hände zu geben. Einige Hundert konnten so gerettet werden, darunter Fruma Kučinskiene:
    "Ich war nur neun Monate versteckt, bevor Anfang August 1944 die Sowjets kamen. In diesen neun Monaten waren 17 Personen und neun verschiedene Heime dabei, alles privat, ja, mit einer gefälschten Geburtsurkunde. Und dann wartete ich noch ein Jahr lang, vielleicht kommt noch jemand aus den Konzentrationslagern. Und die sind nicht gekommen."
    Fruma Kučinskiene überlebte durch ein Netz von Helfern, das die aus Jena stammende Helene Holzman gesponnen hatte. Nach Kriegsende nahm Helene Holzman die elternlose Fruma zu sich. Daraus ergab sich ein enges neues Familienverhältnis.
    Doch nicht überall war es so. Die Beziehungen zwischen geretteten Kindern und ihren Betreuern waren nicht selten auch von Gewalt und manchmal sogar von Missbrauch geprägt, sagt die Salzburger Historikerin und Informatikerin Annelyse Forst:
    "Also ich habe 1200 Zeugnisse von versteckten Kindern in Frankreich - sehr spezifisch nach Informationen zum Thema Gewalterfahrungen, also physische, körperliche und auch zum Thema sexuelle Gewalt. Die körperliche, seelische Misshandlung, das waren 121 Zeugnisse, wo ich diese Informationen gefunden habe. Das ist etwa knapp 10 Prozent."
    Gewalt von Rettern an Geretteten
    Allein in Frankreich, doch die Dunkelziffer könnte dort und in anderen Ländern auch höher liegen, denn viele Erfahrungsberichte und Interviews weichen dem Thema Gewalt von Rettern an Geretteten aus.
    Unter den Aktionen zur Rettung von Kindern im Zweiten Weltkrieg wurde auf der Tagung in Kaunas auch ein jugoslawischer Sonderfall behandelt - die Initiative von Dijana Budisavljević. Sie rettete vor allem serbische Kinder aus Konzentrations- und Vernichtungslagern der kroatischen Ustaša-Faschisten, die mit Hitler verbündet waren. Dijana Budisavljević stammte aus Innsbruck und zog 1919 wegen ihres Mannes nach Zagreb, erzählt der Autor Wilhelm Kuehs:
    "Sie lebte in Zagreb. Ihr Mann war Serbe. Sie haben sich in Österreich kennengelernt, also eine k.u.k.-Geschichte eigentlich. Und als sie erfahren hat, dass sich niemand um die internierten Frauen und Kinder des serbisch-orthodoxen Glaubens kümmert, hat sie begonnen, denen zu helfen. Und aus dieser Hilfe ist dann eine Rettungsaktion entstanden, in deren Verlaufe über 10.000 Kinder gerettet wurden."
    Kinder wieder zu ihren Eltern bringen
    Wilhelm Kuehs hat über die Rettungsaktion der Dijana Budisavljević 2017 einen Dokumentarroman vorgelegt- "Dianas Liste". Diese Liste enthielt notwendige Daten, manchmal auch nur Fotos der Kinder, um sie später wieder finden zu können.
    "Dijanas Idee war immer, sie zurückzubringen zu ihren serbischen Eltern. Und das ist dann nach dem Krieg in sehr, sehr vielen Fällen auch gelungen."
    Bei versteckten jüdischen Kindern war das anders als bei den serbischen. Ihre Eltern hatten eine viel geringere Chance zu überleben.
    Die Tagung in Kaunas bot einen detailgenauen Einblick in ein historisches Kapitel, das die überlebenden Kinder von damals bis heute nicht loslässt.