Donnerstag, 28. März 2024

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Tagung im Potsdamer Einstein Forum
Neue Formen der Solidarität

Gerade in Zeiten, in denen das politische, wirtschaftliche und kulturelle Geschehen zusehends global vernetzt ist, scheint der Begriff der Solidarität eine wenig muffig zu sein. Im Einstein Forum in Potsdam haben sich 13 Geisteswissenschaftler aus neun Ländern damit beschäftigt, Was Solidarität heute sein kann und wie dringend wir eine Solidargemeinschaft brauchen.

Von Cornelius Wüllenkemper | 17.06.2017
    Bunte Figuren an einem Kinderspielplatz.
    "Die Migrationsbewegung bedeutet keine Krise der Solidarität, sondern ein Clash der Solidaritäten", sagt der bulgarische Politologe Ivan Krastev. (Imago / Chromorange)
    "Solidarität ist meiner Meinung nach eher eine Waffe denn ein Instrument des Friedens. Wir stammen von Wesen ab, die täglich um ihr Überleben kämpfen mussten. Psychologisch ist der Menschen besser für den Konflikt gewappnet als für den Frieden."
    Der britische Schriftsteller Carey Harrison drehte gleich zu Beginn das Thema der Tagung vom Kopf auf die Füße. Der amerikanische Historiker und Mitorganisator der Tagung, Dominic Bonfiglio, stellte die Gegenfrage: Brauchen wir eine kollektive Bedrohung, damit Solidarität entsteht?
    "Migrationsbewegung keine Krise der Solidarität"
    Da niemand sich um des Zusammenhalts willen mehr kollektive Gefahren und Katastrophen wünschen kann, hatte Bonfiglio folgende Empfehlung: Wenn Fiktionen in Film und Literatur Katastrophen durchspielten, schüre dies beim Betrachter das Bedürfnis nach Solidarität in der echten Welt. Dabei können die Ansichten darüber auseinandergehen, mit wem man sich jeweils solidarisieren sollte. Den Wettbewerb der Solidaritäten beschrieb der bulgarische Politologe Ivan Krastev angesichts aktueller Migrationsbewegungen so:
    "Nach dem Kalten Krieg ging es darum, wie der Westen und vor allem Europa die Welt verändern kann. Heute fragen wir uns eher, wie wir es schaffen, nicht von der Welt verändert zu werden. Die Migrationsbewegung bedeutet keine Krise der Solidarität, sondern ein Clash der Solidaritäten. Ein Clash etwa mit der Solidarität gegenüber der eigenen ethnischen oder nationalen Gemeinschaft. Das wird gerade in Osteuropa deutlich, wo es bis heute starke Ressentiments gegen die Aufnahme von Flüchtlingen gibt. Je stärker die Solidarität mit der eigenen Gemeinschaft steigt, um so mehr werden Menschen, die als 'die anderen' wahrgenommen werden, ausgeschlossen, selbst wenn gerade sie Solidarität verdient hätten."
    Brüderlichkeit als politisches Konzept
    Der polnische Journalist und politische Aktivist Konstanty Gebert ging einen Schritt weiter. Gebert ist davon überzeugt, dass die aktuelle Asyldebatte den historischen Begriff der Brüderlichkeit erneut mobilisiert habe. Brüderlichkeit als politisches Konzept versteht Gebert als kämpferischen, emotionalen Zusammenhalt, der stets ein Gegenüber als Feindprojektion benötige.
    "Im Namen der Brüderlichkeit wird denen Solidarität verweigert, die eben nicht als unserer 'Brüder' gelten. Welche Rechte wem zugesprochen werden, orientiert sich also an einer bestimmten Idee der Verbundenheit oder vermeintlicher Ähnlichkeit. Dieses Denken ist der direkte Weg ins Desaster. Denn wer wem wie eng in einer vermeintlichen Brüderlichkeit und Ähnlichkeit verbunden ist, dass kann sich sehr schnell ändern. Die Lösung wäre es, mutig aufzustehen und zu sagen: Ich verweigere euch die Brüderlichkeit im Namen der Solidarität. Ich weigere mich, Menschenrechte nur aufgrund irgendeiner Ähnlichkeit mit mir zuzugestehen, auf Kosten anderer, die mir nicht so sehr ähneln."
    "Was du nicht willst ..."
    Die Unterscheidung zwischen uns und den anderen, so sagte die Konstanzer Literaturprofessorin Aleida Assmann, sei eine ungeeignete Antwort auf die Frage, wem wir welche Form der Solidarität gewähren wollen. Anstatt der Debatte um eine deutsche Leitkultur fordert Assmann deswegen, sich auf die Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten zu besinnen, die bereits vor 20 Jahren den Vereinten Nationen und der Weltöffentlichkeit zur Diskussion vorgelegt wurde. Den Leitgedanken universeller, transkultureller menschlicher Verhaltensregeln brachte Assmann wiefolgt auf den Punkt:
    "Was du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinem anderen zu."
    Derart eingängige universelle Wahrheiten, so meinte der israelische Soziologe Omri Boehm, hätten heute immer weniger Bedeutung. Boehm glaubt, dass Wahrheit ebenso wie Solidarität nicht politisch verordnet werden kann, sondern durch eine außerpolitische Idee getragen werden müsse. Da diese im post-utopischen Zeitalter fehle, sei das Interesse der eigenen Nation für viele Menschen wieder der wichtigste Bezugspunkt, wenn es um Fragen nach Gut und Böse, nach Solidarität oder Abgrenzung gehe. Solidarität, so lautete eine der eher ernüchternden Erkenntnis der vielschichtigen Diskussion im Einsteinforum, können heute immer öfter die Verfechter der allzu einfachen Welterklärungen für sich verbuchen.