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Tagung in Berlin
Die Ukraine-Krise zwischen den Mythen

Wie kam es zur Situation in der Ukraine, die Europa derzeit destabilisiert, und wie kann es weitergehen? Darüber diskutierten internationale Sozialwissenschaftler bei einer Tagung des Berliners Zentrum für Literatur und Kulturforschung jenseits der Tagespolitik. Es zeigt sich: Die Krise schürt unterschiedliche Emotionen in Ost und West.

Von Christian Forberg | 11.12.2014
    Ein Junge mit einer ins Gesicht gemalten gelb-blauen ukrainischen Flagge, auf der auch die Sterne der EU-Fahne zu sehen sind.
    Die Krise in der Ukraine schürt unterschiedliche Emotionen in Ost und West. (dpa / Itar-Tass / Hrabar Vitaliy)
    Wie viel genau ist von der Ukraine bekannt? Dass sie viel größer als Deutschland ist und nach dem Zerfall der Sowjetunion selbstständig wurde. Dass dies durch die Annexion der Krim und die Krise im Donbass infrage gestellt ist. Dass der größte Teil der Ukrainer in die Europäische Union will, aber der östliche Rest eher nicht. Was nicht so schlimm sei, sagen einige ukrainische Intellektuelle. Aber sie haben maßgeblich unser Bild von der Republik Ukraine geprägt: Hier die europäische Westukraine, dort die russische Ostukraine.
    "Das ist das Bedauerliche", sagt Tatjana Hofmann, Slavistin an der Uni Zürich. "Mir ging es darum, das Bild infrage zu stellen und uns überhaupt fragen zu lassen: Wie lesen wir die Ukraine, das, was uns über die Ukraine erklärt wird seitens ukrainischer Autoren? Es war auch der Versuch zu sagen, dass der europäische Leser mitgedacht wird in solchen Texten und wir uns ja geradezu geschmeichelt fühlen, weil wir als das Ziel angenommen, vorausgesetzt werden."
    Der im ostukrainischen Dnipropetrowsk geborene Historiker Andrij Portnov wählte zwei andere Begriffe für die Teilung: Für den Westen setzte er "galizischer Reduktionismus", weil Gebiete der Ukraine einst in Galizien und damit dem Habsburger Reich lagen. Hier entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts die Idee einer eigenständigen Nation. Für den Osten wählte er "innerer Orientalismus", also eigentlich nicht mehr zu Europa gehörend.
    "Diese Texte orientalisieren die Leute, die im Donbass wohnen, und die sagen ungefähr so: Diese Leute im Donbass sind selbst verantwortlich für den Krieg, für die Tragödie dieser Region usw. usf. Und warum? Weil diese Leute hoffnungslos sowjetisiert sind."
    In dem Zuge, wie die Ostler abgewertet, ja abgeschrieben wurden, wurden die Westler aufgewertet. Prominente Beispiele sind die Veröffentlichungen der Schriftsteller Mykola Rjabtschuk und Jurij Andruchowitsch.
    "Die sind alle auf Deutsch übersetzt - schon seit Jahren. Man hat meistens diese Texte meistens auch als postmoderne Ironie oder historische Witze gelesen. Aber jetzt sind sie viel aktueller als vorher. Und ich glaube natürlich nicht, dass Putin oder die Leute im Kreml das gelesen oder gesehen haben. Aber es gibt viele Verbindungen zwischen den aktuellen, offiziellen Kreml-Narrativen und den Narrativen, die ich als galizischer Reduktionismus beschreibe."
    Viele Kommunen besaßen ein Lenin-Denkmal
    In dieser, auf das Ex-Galizien reduzierten Ukraine sei man bereits recht weit gekommen auf dem Weg von der Sowjetzeit in eine demokratische Zukunft westlichen Zuschnitts. Stimmt das uneingeschränkt? Die Berliner Geografin Sabine von Löwis hat in einigen Dörfern untersucht, wie im Laufe der Jahre mit Denkmälern umgegangen worden ist. Lenin zum Beispiel. Viele Kommunen besaßen ein Lenin-Denkmal.
    "Am Anfang der Unabhängigkeit der Ukraine steht der Lenin für ein marodes sowjetisches System. Je stärker die Ukraine fortschreitet und problematisch für die Dorfgesellschaft wird, umso deutlicher wird den Leuten – oder: scheinbar haben sie das Gefühl, die Sowjetunion war gut. Das heißt, man hat hier das Gefühl, damals war es stabiler und heute ist es deutlich unstabiler."
    Für die Unabhängigkeit gekämpft
    Lenin ist nur die eine Seite der Geschichte. Gleich nebenan stehen Denkmäler, die an die UPA, die Ukrainische Aufständischen Armee erinnern. Im Zweiten Weltkrieg kämpfte sie erst an der Seite der Wehrmacht, dann gegen sie. Nach dem Krieg legte sie sich mit der Roten Armee an. Gleich gegen wen sie kämpfte – es ging immer um eine unabhängige Ukraine. Und das hat eine fragwürdige Wirkung bis heute, die am ehesten am Nationalisten Stephan Bandera zutage tritt. Die schillerndste Figur jener Zeit wird von vielen als Held gefeiert, vor allem von den Russen aber als Faschist beschimpft, was dann stupid auf die pro-europäische Bewegung in der Ukraine ausgedehnt wird. Eine schwierige Situation, sagt Roman Dubasevych. Der Kulturwissenschaftler wurde in Lviv, in Lemberg geboren und forscht an der Uni Wien.
    "Das ist das Schwierige, was man im Westen zu begreifen hat, dass in der Ukraine diese demokratischen Grundbestrebungen völlig hilflos sind, weil sie sich antiquierter und oft diskreditierter Formensprache und Symbole bedient. Da haben Sie viele Leute auf dem Maidan, die mit dem Bandera-Bild hingehen und denken, damit träten sie für Demokratie und für Europa auf mit dem Bild von einem Menschen, dessen Ideologie eigentlich genozidale Folgen hatte. "
    Verdächtigungen und Schuldzuweisungen
    Davon betroffen waren auch die Krimtataren. Tausende kämpften gegen die Deutschen, Tausende kämpften mit den Deutschen - wofür Stalin alle 1944 deportieren ließ. Erst Ende der 80er Jahre begann ihre Rückkehr. Und auch heute, nach der Annexion der Krim, seien die Krimtataren gespalten, stellte Sebastian Cwiklinski, einer der Organisatoren der Berliner Tagung am Zentrum für Literatur– und Kulturforschung, fest.
    "Wobei – ich würde das in der Dramatik nicht so ausmachen. Es gibt keine unversöhnlichen Gräben, die sich dann in Gewalt äußern würden, aber es gibt Verdächtigungen und Schuldzuweisungen. Die Dramatik wie in der Ukraine erreicht es allerdings nicht."
    Neue imperiale Ideologie
    Umso dramatischer hört sich das an, was Russland vorzuhaben scheint, glaubt man zumindest Autoren, die imperiale Ansprüche in Pamphleten öffentlich machten. Einen krassen Fall stellte Nina Weller, Slavistin an der Freien Universität, vor: Michail Jurjews "Entwicklungsroman" von 2006: "Das Dritte Imperium. Russland, wie es sein soll".
    "Das ist ein sehr programmatischer Text; das hat man auch bei anderen Autoren, die sich das Manifestartige geben müssen. Ich will es auch gar nicht von der Hand weisen - es ist sehr nah an dem, was man gerade realpolitisch erlebt und auch in Äußerungen hört. Ich würde halt nur vorsichtig sein, diesen Verschwörungstheorien aufzulaufen, dass es ein Buch ist, das quasi Lehrbuchcharakter für die russische Regierung hat."
    Dennoch seien der Ex-Politiker und reiche Geschäftsmann Jurjew und andere dabei, eine neue, imperiale Ideologie zu begründen. Am Ende der Globalisierung stünden nur fünf Imperien: Amerika, China, Indien, die arabische Welt und eben Russland, das Europa von Grönland bis Wladiwostok im Osten beherrscht. Umso dringlicher sei es, dem einen Imperium die Heterogenität einer großen Ukraine entgegenzustellen, und damit eine "intellektuelle Zeitbombe" zu entschärfen, meint Alexij Portnow.
    "Innerhalb der Ukraine gibt es eine Idee, dass das Land kein Donbass und keine Krim mehr braucht. Und das finde ich, ehrlich gesagt, gefährlich für die demokratische, europäische Perspektive der Ukraine. Ich habe den Eindruck, dass es bisher zu wenig Kritik gegen diesen galizischen Reduktionismus, zu wenig Kritik gegen diese innere Orientalisierung. Es zeigt uns, wie verantwortlich wir als Wissenschaftler sein müssen. Es ist nicht nur Ironisierung und intellektuelle Spielerei. Es geht auch um ganz wichtige und konkrete Sachen, die mit Menschenleben zu tun haben."