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Tagung zu Utopien
Die beste aller Welten

Eine Welt, in der alles bestens ist. Gibt es das und wenn ja, wie wäre es? An der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften haben Politologen, Sozialphilosophen und Schriftsteller über die Vor- und Nachteile von Utopien diskutiert.

Von Cornelius Wüllenkemper | 24.01.2016
    Eine Demonstrantin in Berlin-Kreuzberg hält bei Protesten für ein Bleiberecht für Flüchtlinge ein Schild mit der Aufschrift "Mehr Utopie wagen: Eine Welt ohne Grenzen". (5.7.2014)
    Leben wir in der bestmöglichen Welt? Eine Frage, die an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften diskutiert wurde. (picture alliance / dpa / Jörg Carstensen)
    Leben wir in der besten aller möglichen Welten? Wie es um die Gegenwart steht, kann nur ein Blick in die Vergangenheit und eine Vorschau in die Zukunft klären. Was haben wir erreicht, und was ist noch möglich? Welche Utopien bieten wenigstens ein Stück weit Orientierung? Der Berliner Politiktheoretiker Herfried Münkler sieht jedenfalls für politische Zukunftsvisionen und Welterklärungen gegenwärtig keinen Platz. Die Gewalterfahrungen des 20. Jahrhunderts haben System-Utopien weitgehend diskreditiert.
    "Erstens haben wir keine, und zweitens ist die Spur, die sie hinter sich gezogen haben, eigentlich in der Regel eine ziemlich blutige Spur. Insofern würde ich die Frage, ob wir Utopien brauchen und was sie heute leisten können etwas modifizieren: Ja, wenn es dünne Utopien sind, die so ein bisschen was an die Wand malen, aber nicht ausformulieren. Das lässt Spielräume für die praktische Politik aber auch in Reaktion auf praktische Probleme, die auftreten."
    Wer sich eine zu genaue Vorstellung von der "besten aller möglichen Welten" macht, so Münkler, muss früher oder später an der Wirklichkeit scheitern, an ihrer realpolitischen Umsetzbarkeit. Aber wie soll man die Gegenwart gestalten, ohne ein Bild von der Zukunft zu haben? Wo ist der Weg, wenn es kein Ziel gibt?
    Orientierung an der Zukunft notwendig
    Der Soziologe Harald Welzer betonte in der Berliner Akademie der Wissenschaften, dass unserer Gesellschaft die Zukunft abhanden gekommen sei. Um der täglichen Hysterisierung einzelner Ereignisse zu entgehen, um die Wirklichkeit realistisch einzuordnen anstatt von Katastrophe zu Katastrophe zu hecheln, brauche man eine Orientierung an der Zukunft. Der Kölner Literaturprofessor Wilhelm Voßkamp übertrug diesen Gedanken, sich mithilfe von Zukunftsentwürfen für die Gegenwart zu wappnen, auf die Literatur. Die Sinnsysteme der Gegenwart würden schneller zerstört, als die Menschen sie neu erschaffen könnten.
    "Und dagegen wehren sich Menschen, und dagegen wehrt sich auch der Schriftsteller, der solche Entwürfe macht. Sie offenbaren Zustände, die als Probleme wahrgenommen werden. Es geht also immer um die Frage: lässt sich aus der gegenwärtigen Situation qua intellektuellem Entwurf, qua Literatur, eine Art Gegenentwurf machen und liefert dieser Gegenentwurf Sinnvorschläge. Ein Versuch der Bannung dessen, was man als Bedrohung erlebt."
    Voßkamp spricht der Literatur eine prophetische Wirkung zu. Die drängendsten Probleme der Gegenwart, von Datenmissbrauch und Überwachung bis hin zur Genmanipulation und der Mensch-Maschine seien allesamt bereits in den utopischen Romanen von Huxley, Orwell oder Samiatin Anfang des 20. Jahrhunderts vorausgesagt worden.
    Flucht aus der Wirklichkeit
    Literarische Negativ-Utopien hätten sich dabei stets als nützlicher erwiesen. Einerseits weil sie als Warnung fungierten. Andererseits dienten paradiesische Zukunftsentwürfe vor allem der Flucht aus der Wirklichkeit - da reicht schon ein Blick in die Werbekataloge der Tourismusindustrie. Die Büchner-Preisträgerin Felicitas Hoppe wies im Gespräch mit Ingo Schulze über "Imperien und bessere Welten" darauf hin, dass imaginierte Weltbilder nur so lange ihre Kraft entfalten, bis sie von der Wirklichkeit eingeholt werden.
    "Es gibt in unserer reisewütigen Gesellschaft eine Angst der Begegnung mit dem, was da wirklich ist. Warum? Weil das natürlich Utopien abträglich ist. Wenn ich mir die Sache angucke, wie sie wirklich ist, dann wird ja auch das Bild, das ich mir gemacht habe, zerstört. Und mit diesen Enttäuschungen hatten wir ja auch nach dem viel gerühmten, sogenannten Mauerfall, der Wende zu tun. Und im Umkehrschluss, was ja auch mit der Utopie verbunden ist, ist das Feindbild. Ein stabiles Feindbild zerbricht in dem Moment, in dem ich irgendwo hinfahre und mir das wirklich mal anschaue."
    Utopie als flexibles System
    Hoppe hatte sich zuletzt auf die Spuren des sowjetischen Autorenduos Ilf und Petrow und deren Reise durch die Vereinigten Staaten im Jahre 1935 gemacht. Der Quintessenz der beiden Schriftsteller war: "Wäre Amerika sowjetisch, dann wäre es das Paradies!" Anstatt in starren Denkkonzepten zu verharren, sollte der Traum von der besten aller möglichen Welten ein flexibles System sein, eine Vision, die sich der Realität anpasst - so könnte der Tenor des Symposiums in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften lauten. Oder wie es Stephan Steinlein, Staatssekretär im Auswärtigen Amt in der Diskussion über politische Utopien ausdrückte: wenn wir es schaffen, Hochmut und Zynismus zu vermeiden und dabei stets neugierig auf Neues bleiben, steht es gut um unsere Zukunft.