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Taliban säen Angst
Bürger aus Kundus: "Wir sind am Ende"

Seit der Einnahme der nordafghanischen Stadt Kundus durch die Taliban trauen sich viele Einwohner nicht mehr auf die Straße. Trotz des spärlichen Informationsflusses gibt es Berichte von Plünderungen und zahlreichen Verletzten. Ein lokaler Polizeisprecher teilte indes mit, dass auch die Taliban-Kämpfer "heftige Verluste" erlitten hätten.

Von Jürgen Webermann | 30.09.2015
    Schwer bewaffete Soldaten in Tarnuniformen setzen sich auf einem Rollfeld auf die Pritschen zweier Armee-Pickups.
    Spezialeinheiten der afghanischen Armee bereiten sich am 29.9.2015 am Flughafen auf eine Gegenoffensive gegen die Taliban zur Rückeroberung von Kundus vor. (AFP / Nasir Waqif)
    Zu Tausenden versuchen Zivilisten, aus Kundus zu fliehen. Vor allem schaffen sie es aus Stadtteilen, in denen sich die Taliban zurückgezogen haben. Auf Pferden, voll beladenen Rikschas, mit allem, was die Menschen mitnehmen können.
    "Die Lage ist sehr, sehr schlecht. Wir sind am Ende. Wegen der Lage hier versuchen wir wohl zu Tausenden, heraus zukommen", berichtet Qadir, der es mit seiner Familie vor die Tore der Stadt geschafft hat, einem der wenigen Reporter vor Ort. Zehntausende aber sind immer noch eingeschlossen in der Innenstadt. Seit Montag haben sie keinen Strom. Viele trauen sich nicht, auf die Straßen zu gehen, aus Angst vor den Taliban. Die hatten zwar erklärt, sie wollten nur Koranschulen bauen und das Recht der Scharia durchsetzen und ansonsten keine Rache üben – aber vor allem diejenigen, die für die Regierung oder ausländische Organisationen gearbeitet haben, sind verunsichert. Gerüchte machen die Runde, über Gräueltaten, verübt von ausländischen Kämpfern aus Tschetschenien und Usbekistan. Auch Taliban, die aus Kundus selbst stammen, sollen vor Ort sein – sie dürften sich nicht nur gut auskennen, sondern auch den ein oder anderen Einwohner identifizieren. Ob der afghanische Geheimdienst die Gerüchte über Erschießungen mutwillig streut oder ob an ihnen etwas dran ist, lässt sich nicht klären.
    Einwohner berichten von Plünderungen
    Der Informationsfluss aus Kundus wird immer spärlicher, die Handyakkus vieler Bewohner sind längst leer, ihre Verbindungen nach draußen gekappt. Allerdings berichteten einige Bewohner immer wieder, dass Taliban-Kämpfer auch in Wohnvierteln unterwegs seien. Dies stützt die Aussage der afghanischen Regierung, wonach die Extremisten die Bürger der Stadt als Schutzschilde benutzen. Außerdem bestätigten Einwohner, dass die Taliban Häuser geplündert hätten. Die Kämpfer fuhren offen in Geländewagen durch die Stadt, die eigentlich den Vereinten Nationen oder der deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit gehören, dem entwicklungspolitischen Arm der Bundesregierung. Die GIZ war massiv in Kundus präsent, um zivile Aufbauhilfe zu leisten. Unter anderem engagierte sie sich im Aufbau des Justizwesens, finanzierte aber auch Schulen.
    Ein Polizeisprecher versuchte heute früh, trotz der prekären Lage Optimismus zu verbreiten. "Der Feind hat heftige Verluste hinnehmen müssen. 83 Extremisten wurden getötet bisher, darunter drei ausländische Kämpfer."
    Woher er diese genaue Zahl haben will, ist nicht klar. Die Organisation Ärzte ohne Grenzen, die in Kundus ein Krankenhaus betreibt, betonte erneut, ihre Klinik in Kundus sei völlig überlastet, so viele Verletzte würden eingeliefert – vor allem Zivilisten, darunter viele Kinder. In der Nacht hatten die Taliban versucht, den Flughafen zu erobern, der außerhalb der Stadt auf einem Hügel liegt. Dort sowie im benachbarten ehemaligen Feldlager der Bundeswehr befinden sich die Kommandostände der afghanischen Armee. Die US-Luftwaffe bombardierte die Angreifer, dann zogen sie sich zurück, das räumten auch Taliban-Kommandeure ein. Das offene Gelände am Flughafen bietet kaum Schutz für die Taliban, ganz anders als in der eng bebauten Innenstadt.
    Aus NATO-Kreisen heißt es, auch Spezialkräfte aus den USA, Deutschland und Großbritannien seien in Kundus. Die Bundeswehr hatte gestern ein Team nach Kundus geschickt, um sich laut Verteidigungsministerium mit den afghanischen Kommandeuren abzustimmen. Aktiv eingreifen dürfen sich nicht, dafür fehlt das Mandat.