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"Talmud für Frauen"

Die Geschichte geschah an einem Talmudgelehrten, der sein Lebtag nichts anderes getan hatte, als Tag und Nacht nur zu lernen. Und doch starb er gar jung an Jahren. Da nahm seine Frau seinen Gebetsmantel und die Gebetsriemen und ging in das Lehrhaus zu den Rabbinen und sagte zu ihnen: "Es steht geschrieben in der heiligen Tora: "Die Lehre ist dein Leben und sie derlengt dir deine Tage." Nun, mein Mann hat Tag und Nacht nichts anderes getan, als gelernt und gelernt. Warum nur ist er so jung an Jahren gestorben?

Von Marli Feldvoss | 22.06.2004
    Im Lehrhaus weiß keiner Rat; eine Antwort erhält die Witwe erst später, als ein Talmudgelehrter bei ihr übernachtet. Unsereins, der talmudunkundige Leser, ahnt schon, daß der Gelehrte vor lauter Gelehrsamkeit seine Frau im Bett vernachlässigt haben muß, aber der Tod als Strafe dafür erscheint doch unverhältnismäßig. Doch der Todesengel ist nicht nur in der "Geschichte über einen früh verstorbenen Talmudgelehrten", der ersten der insgesamt 255 im Ma’assebuch versammelten Geschichten, unterwegs. Ein geschickter Schachzug des jiddischen Volksbuchs, gleich zum Auftakt seine eigentliche Zielgruppe ins Visier zu nehmen.

    Ein "Talmud für Frauen" wurde das Ma‘assebuch auch genannt, für die des Hebräischen Unkundigen, für die Ungelehrten, deren Umgangssprache das Altjiddische war, die dennoch lesekundig waren. "Maisse", vom Hebräischen "Ma’asse", bedeutet auf Jiddisch Geschichte, und die jiddische Literatur beginnt mit dem 1602 in Basel erschienenen "Ajn schojn maasebuh", gefolgt von der maßgeblichen Amsterdamer Ausgabe, genannt "Ma’assebuch. Allerlei Geschichten", von 1723, die auch dieser Übersetzung zugrunde liegt. Per definitionem ein Buch der Taten und Geschichten, eine Märchensammlung, in der die schönsten Sagen aus Talmud und Midrasch, Erzählungen von den heiligen Männern des Mittelalters, aus dem Abend- wie aus dem Morgenland, vereint sind. Nur, das "Ma’assebuch" kennt heute keiner mehr; es war zweihundert Jahre lang so gut wie verschollen. Ulf Diederichs, früher Verleger der "Märchen der Weltliteratur", hat Anfang der sechziger Jahre zufällig ein Exemplar erstanden, machte sich aber erst viel später daran, das altjiddische Erzählwerk ins Hochdeutsche zu übertragen.

    Ich habe immer geliebäugelt mit den jüdischen Erzähltraditionen und fand sie nirgends richtig aufgezeichnet. Und als ich als Verleger noch die "Märchen aus Israel" herausbrachte, das war 1976, da wurden Dinge erzählt und hineingebracht, die angeblich aus Israel kommen, in denen ich jedoch entdecken konnte: das ist hier das alte deutsche jüdische Mittelalter. Das hat mich neugierig gemacht, um so mehr, weil ich auch bei den Gebrüdern Grimm nur an zwei oder drei Stellen Hinweise auf dieses Buch fand, aber nie gewürdigt wurde, daß es sich hier um die erste und größte jiddische Erzählsammlung handelt. Und das hat mich in jeder Beziehung neugierig gemacht, und das wollte ich mir gerne erarbeiten.

    "Die Geschichte geschah." So fangen alle Geschichten im "Ma’assebuch" an, eine gattungsspezifische Einleitung der Märchenliteratur. Vielleicht etwas eindringlicher, mehr auf "Vorkommnis" oder "Begebenheit" beharrend, als das auf die erzählende Geschichte hinweisende: "Es war einmal". Die Geschichten enden alle mit einer Moral, die Belehrung, lebenspraktische Warnung oder ein Gotteslob sein kann.

    Die Herausgabe des "Ma’assebuchs" galt vor vierhundert Jahren als bahnbrechendes Ereignis, weil das Jiddische mit einer Sammlung überlieferter Schriften hier zum ersten Mal als Literatursprache auftrat. Wer als Autor, Sammler und Kompilator des umfangreichen Werks anzusehen ist, ist bis heute unbekannt. Gedruckt wurde es von dem aus der Warschauer Gegend stammenden Verleger und "fliegenden Buchhändler" Jakob bar Abraham, der seit 1598 in Basel tätig war.

    Dennoch verging fast ein Jahrhundert bis das Ma’assebuch auf ein größeres Leseinteresse stieß, was auch mit der regionalen Diskriminierung der Juden zusammenhing. Das dreigeteilte Werk beruft sich in seinem ersten und größten Teil auf die Lehre und Weisheit des Talmud und damit auf die Diskussion der Religionsgesetze. Die beiden anderen Teile berichten von den legendären Wundertaten der deutschen Rabbinen, geben Einblicke in deren Gepflogenheiten und Lebensverhältnisse in den jüdischen Gemeinden, und enthalten Midraschim, Auslegungen von biblischen Texten, sowie Märchen aus dem Morgen- und Abendland. Warum das mehrmals herausgebrachte und weit verbreitete Volksbuch Mitte des 18. Jahrhunderts plötzlich wieder verschwand, erklärt Ulf Diederichs so:

    Mit diesem Buch verschwand zugleich die Sprache, in der es erzählt und geschrieben wurde. Es wurde also nie ins Hochdeutsche übersetzt, sondern verblieb in den innerjüdischen Zirkeln, war meistens gesetzt in einer eigenen Type, dem so genannten "Weiberteitsch", das die Frauen – und auf die kam es sehr stark an - selbst lesen konnten. Und dieses alte, das Westjiddische, bewahrt vieles von frühneuhochdeutschen und mittelhochdeutschen Sprachen. Man kann es zu Dreiviertel lesen, auch wenn man des Jiddischen nicht kundig ist. Und diese Sprache wurde später überlagert von dem Ostjiddischen, und aus der Frauenliteratur wurde eine sehr männliche der Chassiden, der Aufklärung, der Haskala, es wurde – wie man heute sagen würde - ein ganzer Paradigmenwechsel vollzogen innerhalb der Sprache, innerhalb der Kultur. Und dieses Buch steht für eine alte Kultur, die mitsamt ihren Denkmälern und ihrer Sprache irgendwann verschwunden ist. Und deswegen ist es auch nahe liegend, dass sie für Jahrhunderte in Vergessenheit geriet und erst Ende des 19. Jahrhunderts von jüdischen Gelehrten quasi wieder entdeckt wurde.

    Ulf Diederichs knüpft mit seiner Übersetzung des "Ma’assebuchs" unmittelbar an seine Vorgänger aus den späten zwanziger Jahren an, als die Blüte der Judaistik jäh durch den Nationalsozialismus zerschlagen wurde. Wichtige Vorarbeit hat Bertha Pappenheim 1929 mit einer deutschsprachige Ausgabe für den mitgliederstarken Jüdischen Frauenbund geleistet, auch hat der rumänische Rabbiner Moses Gaster 1934 mit einer englischen Ausgabe neue Maßstäbe gesetzt.

    Im Zuge der Wiederentdeckung des Jiddischen in den letzten Jahren gebürt Diederichs das Verdienst, mit seiner Übertragung auch ein besonders unterhaltsames Erzählwerk zugänglich gemacht zu haben. Obwohl es sich um eine moralische Belehrungs- und Erbauungsliteratur handelt , die einmal gegen die säkulare Volksliteratur ihrer Zeit antrat, überrascht die originelle jiddische Lesart etwa altbekannter Geschichten. Dazu gehört die Alkestis-Variante: "Von der Braut, die ihren Mann vor dem Todesengel bewahrte und Aufschub erlangte". Für das I-Tüpfelchen sorgt hier die gewitzte Argumentation der Heldin, der es - unter Berufung auf die heilige Tora - gelingt, den Todesengel umzustimmen und einen Aufschub von sieben Jahren zu erwirken:

    Ein Mann, der ein Weib nimmt, der soll ein ganzes Jahr frei sein von allerlei Dingen und soll mit dem Weib, das er genommen, sich freuen." Und jetzt will der Heilige, gepriesen sei Er, seine heilige Tora, Gott bewahre, selber unrichtig machen?

    Immer wieder fällt der ironische Gestus und die durchweg freizügige Erzählweise bekannter, aber auch unbekannter Geschichten ins Auge, die sich stark von den romantisch verklärten, zur Verbürgerlichung neigenden Märchen der Brüder Grimm abheben.

    Die Helden sind ganz neue für uns. Es sind die alten Propheten wie der berühmte Elia, es sind die Könige David und Salomo, es sind die unglaublich vielen und interessanten Rabbinen, die aber deswegen auch etwas breiter angelegt sind, weil sie, so fromm sie manchmal sind, der böse Trieb beherrschen kann. Theologisch gesagt, passieren sehr viel mehr Anfechtungen. Die Unkeuschheit, die Wollust, all das spielt in diese Geschichten hinein. Die Brüder Grimm haben sich gehütet. Wenn sie da noch ein freies Wörtchen in ihrem Erstdruck haben, daß zum Beispiel Rapunzel der Bauch schwillt, dann erschien ihnen das in späteren Ausgaben schon zu deutlich auf sexuelle Freizügigkeit hinzuweisen, und sie haben das Bäuchlein sozusagen verschwinden lassen. Sie waren da ganz etepetete. Das ist eigentlich das schöne an den jüdischen, rabbinischen Geschichten, daß sie sehr frei sind in allen Lebensumständen und Lebensfragen. Es wird alles klar abgehandelt.

    Die Notwendigkeit einer Übersetzung ins Hochdeutsche mag der eine oder andere in Zweifel ziehen, weil das zu 75% aus deutschem Sprachgut stammende Jiddische für deutsche Leser durchaus lesbar wäre. Die besondere jiddische Erzählweise, die jüdisches Gedankengut, jüdische Lebensphilosophie mit der Tradition der Dialektik rabbinischer Lehrmeinungen verbindet, mit einem Leben und Denken in Widersprüchen, läßt sich in einer Übersetzung mit angemessenem Glossar allerdings besser nachvollziehen. Insofern bietet sich das voluminöse "Ma’assebuch" als ein weiterer Baustein zur Erschließung eines humanistischen Jahrhunderts an, das sich neu erzählen will und das man, um es mit Ulf Diederichs zu sagen, als den Beginn der frühen Neuzeit sehen und neu bewerten soll.
    Marli Feldvoß

    Das Ma’assebuch. Altjiddische Erzählkunst
    DTV, 848 S., EUR 14.50