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Talmud und Internet. Eine Geschichte von zwei Welten

"Wo, wenn nicht mitten in der Diaspora braucht der Mensch eine Homepage?" Jonathan Rosens geistreicher Essay beschäftigt sich mit den überraschenden Ähnlichkeiten zwischen den traditionsreichen Büchern des Talmud und dem jüngsten Kommunikationsmedium, dem Internet.

Andrea Gnam | 31.07.2002
    Tröstlich sei es für ihn, in einem modernen Medium den Widerhall eines uralten Mediums zu finden. Trost im umfassenden, geistigen Sinn sucht der Erzähler, als er feststellen muss, dass sein elektronisches Tagebuch mit den Aufzeichnungen zum Sterben seiner Großmutter gelöscht worden ist. Die Daten lassen sich retten. Die Tagebucheintragungen bleiben aber gegenüber der Erinnerung merkwürdig blass. Der Tod und das Weiterleben des Wissens im Buch sind die beiden einander diametral gegenüberstehenden Säulen, an denen der Autor die Geschichte des jüdischen Volkes in den Jahrhunderten des Exils entrollt. Der Talmud, die spät aufgezeichnete mündliche Auslegung der fünf Bücher Moses, der Tora, ist voll von Ambivalenzen. Es ist ein Buch, aber auch wieder nicht. "Wende es immer von neuem, denn alles ist darin enthalten", lautet ein rabbinischer Ausspruch, Eine Talmudseite enthält in der Mitte die Wiedergabe der ältesten Diskussionen zu Rechtsfragen, welche Gelehrte geführt haben. Darunter stehen die Diskussionen späterer Rabbiner über diese Dispute und auch diese werden auf der selben Seite von den Nachfahren kommentiert. Der Talmud ist, wie Rosen schreibt, eine Art "Treibnetz zur Gottessuche". Dabei wird auch alles andere hineingeschwemmt. Rechtsfragen, Fragen zu Kleidung und Essen, landwirtschaftliche und kalendarische Probleme, erkenntnistheoretische Fragen - sozusagen die "talmudischen Pendants zu Delphinen, Schildkröten und alten Stiefeln, "Entweder/oder" ist angesichts dieser Vielfalt der Stimmen keine talmudische Kategorie. Und auch Rosens Essay gelingt es immer wieder Gegensätze ineinander aufzulösen.

    Dabei ist der kunstvolle Aufbau des Essays zu bewundern. Den beiden großen Themen "Tod" und "Buch", und der möglichen Auferstehung des für tot erklärten Buches im Internet, stehen zwei Paare gegenüber Das eine Paar bilden die beiden jüdischen Großmütter des Autors, deren Leben nicht gegensätzlicher hätte verlaufen können Die eine starb im Konzentrationslager, die andere führte in New York ein Leben in relativem Wohlstand, ohne existentielle Nöte, wie der Enkel meint-

    Das andere Paar bilden zwei historische Gestalten, die für die Geschichte des Judentums von großer Bedeutung sind. Der eine, Josephus, war ein ehemaliger Feldherr, der in aussichtsloser Situation zu den römischen Gegnern übergelaufen ist. Dort schrieb er die "Geschichte des jüdischen Krieges" und Rosen bezeichnet ihn als "den berühmtesten Historiker aller Zeiten". Der andere, Jochanan ben Sak-kai, ließ sich in einem Sarg aus dem belagerten Jerusalem hinausschaffen, um im Exil eine Schule zu gründen. Sie wurde die wichtigste Stätte der frühen Diskussion der Tora, ihre Dispute haben Eingang in die Bücher des Talmud gefunden.

    Die hier - im besten Sinne amerikanische - Personalisierung der Historie wird von Rosen auch gleich als etwas zu groß geratene Parallele bekannt: "Zweifellos zwinge ich der Welt meine persönlichen Paradigmen auf und verwandle Josephus und Jochanan ben Sakkai in die historischen Pendants meiner Großmütter mit ihren unterschiedlichen Vermächtnissen" kommentiert Rosen das reizvolle Unterfangen. Er gewinnt bei dieser Betrachtung beiden Paaren eine überraschende Wendung ab. Der Historiker Josephus bleibt, trotz all seines Ruhmes, erstarrt angesichts der Katastrophe, über die er zu berichten hat. Der weniger bekannte Rabbi aber hat die Grenzen der Zeit überwunden. Er lebt in einer auf die Zukunft ausgerichteten, sich erst entfaltenden Tradition fort. Auch im Nachdenken über die Großmütter finden sich neue Aspekte: Nicht nur das schreckliche Ende der im KZ umgekommenen Europäerin steht zur Debatte, sondern sie wird auch als junge Frau vorgestellt. Über die scheinbar so unbeschwerte Amerikanerin erfährt der Erzähler, dass sie Zeit ihres Lebens nicht über den Verlust eines totgeborenen Kindes hinweggekommen ist.

    Im Internet, das in der Kontingenz seines Wissens und der auf weite räumliche Entfernungen ausgerichteten Kommunikation in manchem dem Treibnetz des Talmud ähnelt, ist auch eine Wiederbegegnung mit den verlorenen Stätten jüdischen Lebens möglich. Der Autor besucht virtuelle Synagogen. Hier aber ist er zugleich mit den Grenzen des Mediums konfrontiert. Alle Vollkommenheitsphantasien sind zum Scheitern verurteilt, betrachtet man sie in den Kategorien von Talmud und Internet. Wie die Unterwelt für Odysseus, der seine tote Mutter vergeblich zu umarmen versucht, bleibt das Internet "ein Reich intimer Begegnungen, wo das, wonach wir uns sehnen, sich uns letztlich immer zu entziehen vermag."